Dr. Christian Leipert

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August 2001 

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Skandinavien: ein Paradies der außerhäuslichen Kinderbetreuung – flächendeckend und ganztägig. 

Trifft diese Fama zu?

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Nach allen Umfragen in Deutschland, Österreich, aber auch in Frankreich und in skandinavischen Ländern äußern junge Eltern eine starke Präferenz, die Kleinstkinder selbst zu betreuen. Eine Befragung deutscher Mütter durch das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Engelbrech/Jungkunst Anfang 2001) ergab, daß nur 5-7 Prozent der westdeutschen Mütter, die in Partnerschaft leben, mit Kindern unter 7 Jahren auf ihre volle Erwerbstätigkeit setzen. In Ostdeutschland wollen nur noch 17-24 Prozent der dort lebenden Mütter für sich und ihren Mann einen Vollzeitjob.

In Deutschland beläuft sich die Frauenerwerbsquote auf 61 Prozent; allerdings liegt bei Müttern mit Kindern unter 7 Jahren der Anteil der Teilzeitarbeit bei über 2/3. Sicherlich ist die Erwerbsquote von Frauen und auch von Müttern in Skandinavien höher als in Deutschland, obwohl man auch hier genau hinschauen muß. So ist z.B. der Anteil der Teilzeitarbeit bei schwedischen Müttern sehr hoch. Entweder wünschen sich mehr schwedische Mütter mehr Zeit für ihre Familie und ihre Kinder oder sie sind wegen unzureichender Bedingungen der öffentlichen Kinderbetreuung zur Teilzeitarbeit gezwungen. Das müßte näher geprüft werden.

Auf jeden Fall sollte bei der hohen Erwerbsquote schwedischer Mütter mitbedacht werden, daß Paare mit Kindern zumindest in Dänemark und Schweden mehr oder weniger gezwungen sind, beide erwerbstätig zu sein. Bei Steuer- und Abgabenquoten von bis zu 65 Prozent ist ein angemessener Lebensstandard für Familien mit Kind(ern) mit einem Durchschnittseinkommen praktisch nicht machbar. Darauf verweist auch Frau Matlary – im Grunde fragend – in ihrem Beitrag für das Straßburger Kongreßbuch.

Ferner ist die Geburtenrate in allen skandinavischen Ländern höher als in Deutschland. In Schweden ist sie allerdings innerhalb von 10 Jahren von 2,14 auf 1,5 Kinder pro Frau , also um knapp 1/3, abgesackt, was zeigt, daß es auch in den skandinavischen Ländern keine Garantie für relativ hohe Geburtenraten gibt.

In Deutschland wird nun argumentiert, daß sich zeigen läßt, daß Länder mit einer höheren Erwerbsquote von Müttern auch höhere Geburtenraten aufweisen. Und wie ist die höhere Erwerbstätigkeit für Mütter machbar? Durch die (angebliche) Existenz flächendeckender öffentlicher oder öffentlich bezuschußter Ganztageseinrichtungen für Kinder ab dem 4. Lebensmonat bis zur Einschulung und auch danach.

Schaut man sich das skandinavische Panorama genauer an, ergibt sich ein sehr viel differenzierteres Bild der Betreuungssituation, in dem der Eigenbeitrag der Eltern zur Betreuung ihrer Kinder eine viel größere Rolle spielt, als es sich unsere Familienpolitiker/-innen träumen lassen. Es ist zu allererst wichtig festzustellen, daß Familienpolitik und vor allem die staatlichen Leistungen zur finanziellen Absicherung von häuslicher und außerhäuslicher Betreuungszeit in Skandinavien einen sehr viel höheren Stellenwert – gemessen an den zur Verfügung gestellten staatlichen Finanzmitteln – haben als in Deutschland.

Es wird gerade für die sensible Zeit der Betreuung von Kleinkindern bis zur Erreichung des Kindergartenalters sehr viel mehr staatliches Geld ausgegeben. So liegt das Elterngeld praktisch in allen nordischen Staaten bei ca. 80 Prozent des letzten Einkommens (bei einer Höchstgrenze von 5300 DM, z.B. in Schweden). Dieses Elterngeld wird in Schweden und Norwegen ein Jahr, in Finnland 9 Monate und in Dänemark mindestens 6 Monate mit verschiedenen Verlängerungsoptionen gezahlt.

Diese hohe Lohnersatzleistung ist auch die Haupterklärung für die höhere Beteiligung von Vätern am Elternurlaub in Skandinavien. Ein zusätzlicher Anreiz für Väter ist ferner, daß der sog. Vätermonat, wenn er vom Vater nicht in Anspruch genommen wird, in Schweden und in Norwegen seit einigen Jahren ersatzlos wegfällt. Frau Bergmann wird solange mit ihrem Väterprogramm keinen durchschlagenden Erfolg haben, wie sie nicht bereit ist, für eine Abkehr von den lächerlich niedrigen 600 DM Erziehungsgeld zugunsten eines deutlich höheren Erziehungsgeldes (in Richtung auf ein existenzsicherndes Erziehungsentgelt) zu kämpfen.

Nach 12 Monaten Elterngeld erhalten schwedische Mütter oder Väter im Elternurlaub weitere 3 Monate einen Tagessatz von 13 DM (= 390 DM monatlich). Diese Garantiesumme von 60 Kronen pro Tag erhalten ferner Studenten/-innen, Arbeitslose und Nicht-Erwerbstätige maximal 15 Monate lang statt des hohen Elterngeldes. Diese Diskriminierung von nicht-erwerbstätigen Frauen, die ein Kind bekommen, war in Teilen des politischen Spektrums in Schweden schon immer hoch umstritten (s. hierzu auch meinen Bericht über meinen Schwedenaufenthalt im Februar ’97). So haben die nicht-sozialistischen Parteien gemeinsam im Wahlkampf ’88 ein zu versteuerndes Erziehungsgeld in existenzsichernder Höhe für Kinder im Alter von 1-7 Jahren als Forderung eingebracht, und zwar als Gegenforderung zur Ausweitung des Erziehungsgeldes auf 18 Monate, wie damals von den Sozialdemokraten vorgeschlagen.

Dieses Erziehungsgeld sollte an alle Eltern bezahlt werden, unabhängig vom Erwerbsstatus, und mit einem Recht, nachgewiesene Kinderbetreuungskosten bis zu einer Höhe von 15.000 Kronen vom zu versteuernden Einkommen abzusetzen, kombiniert werden. Die Kosten des Programms sollten hauptsächlich durch Senkungen bei den staatlichen Zuschüssen für öffentliche Kinderbetreuung finanziert werden, d.h. durch steigende Kinderbetreuungs-gebühren, – die bei Einführung einer deutlich höheren Garantiesumme für häusliche Kinderbetreuung ja auch bei Bedarf leichter finanzierbar ist.

Unter der christdemokratisch-liberalen Koalitionsregierung von K. Bildt Anfang der 90er Jahre wurde ein allgemeines Erziehungsgeld eingeführt. Nach dem Sturz der Regierung durch die Sozialdemokraten schon nach einem halben Jahr wurde es allerdings wieder abgeschafft.

Sehr interessant ist nun eine Neuregelung, die ab 2002 in Kraft tritt. Studenten/-innen, Arbeitslose und Nicht-Erwerbstätige, die ein Kind bekommen, erhalten vom Beginn des neuen Jahres an in den 12 Monaten, in denen Erwerbstätige eine Lohnersatzleistung erhalten, nicht mehr nur eine Garantiesumme von 13 DM pro Tag, sondern das doppelte, nämlich 26 DM, und ab 2004 180 Kronen, also 39 DM (s. taz vom 3.7.2001). Auf den Monat umgerechnet sind das fast 1200 DM Erziehungsgeld, und das 15 Monate lang, für Erziehende, die vor der Geburt ihres Kindes nicht erwerbstätig waren. Diese (für deutsche Verhältnisse) massive Steigerung des bisher stiefmütterlich behandelten Erziehungsgeldes für “Hausfrauen”, die es nach Auskunft von fachlicher Seite angeblich gar nicht mehr gibt, scheint eine gewisse Umwertung der familienpolitischen Grundpositionen auch der regierenden Sozialdemokraten anzudeuten, die näher auszuloten wäre.

Wie wir intern seit langem wissen, ist auch die Familienpolitik in Norwegen sehr viel flexibler, was die Förderung der unterschiedlichen familiären Wünsche hinsichtlich der Kinderbetreuung angeht, als sich das manche Bewunderer/-innen des skandinavischen “Modells” vorstellen können. Es gibt nach Ablauf eines Jahres Elternurlaub, der mit einem hochdotierten Elterngeld gekoppelt ist, eben nicht nur ein Angebot des Staates für eine hoch subventionierte Krippenbetreuung, sondern seit dem 1. August 1998 für Eltern von 1- oder 2-jährigen Kindern das Betreuungsgeld in Höhe von ca. 850 DM (3000 norw. Kronen oder 398 U.S. Dollar) monatlich (s. hierzu meinen Bericht “Betreuungsgeld in Norwegen…” vom Nov. ’00, mit korrigierten Zahlen vom Febr. ’01). Dieses (Teil-)Betreuungsgeld erhalten alle Eltern, die in dem entsprechenden Zeitraum keinen (oder keinen Vollzeit-)Betreuungsplatz in einer öffentlich bezuschußten Krippe in Anspruch nehmen. Zusätzlich erhält die (der) Mutter (Vater) für die Zeit des Betreuungsgeldbezugs eine Rentenanwartschaft in Höhe des durchschnittlichen Erwerbseinkommens.

Den Regierungsangaben zufolge erhalten heute ca. 80 Prozent aller Eltern von Kindern im Alter von 1 bis 3 Jahren das Betreuungsgeld – ganz oder gekürzt. Der Anteil der 1-oder 2-jährigen Kinder mit Krippenbetreuung lag 1996 bei 34 Prozent, wobei in dieser Zahl auch die Teilzeitbetreuung enthalten ist. Bei diesem Anteil ist es bis heute geblieben.

Einer Broschüre der norwegischen Regierung von Nov. ’98 kann man folgende Erläuterungen entnehmen: “Die Anhänger der Regelung nennen das Erziehungsgeld (= Betreuungsgeld) eine Nothilfe für Familien, die unter großem Zeitdruck stehen und bei denen die mit den Kindern verbrachte Zeit darunter leidet. Die (damals, C.L.) amtierende Kinder- und Familienministerin Valgerd Svarstad Hangland von der Christlichen Volkspartei sagt ohne Umschweife, daß Kleinkinder in häuslicher Obhut am besten gedeihen.”

Frauen machen fast die Hälfte aller Erwerbstätigen in Norwegen aus. Die durchschnittliche Wochenerwerbsarbeitszeit von Frauen liegt allerdings um 8 Stunden niedriger als die der Männer. Sehr viele Frauen haben also einen Teilzeitjob, um Kinder und Familie bewältigen zu können. In den Chefetagen sind allerdings auch in Norwegen die Frauen rar. Nur 3,5 Prozent der Führungskräfte in norwegischen Unternehmen sind Frauen. Das ist weniger als in den USA, Großbritannien oder auch Spanien. Auf der mittleren Führungsebene beträgt der Anteil der Frauen 7,5 Prozent, auch das eine – gemessen am frauenpolitischen Image Skandinaviens bei deutschen Frauen- und Familienpolitikerinnen – beschämend niedrige Zahl.

In der deutschen Diskussion ist bei familienpolitischen Vergleichen immer von Dänemark und Schweden die Rede. Auch Norwegen wird mit seiner hohen Frauenerwerbsquote und der relativ hohen Geburtenrate gerne zitiert. Die hochinteressante Betreuungsgeldregelung Norwegen’s, von der wir in Deutschland vorläufig nur “träumen” können, scheint in den Medien und in der Politik noch weitgehend unbekannt zu sein oder wird ignoriert, weil sie vielleicht nicht in’s aktuelle Konzept paßt. Finnland’s Familienpolitik wird in deutschen Debatten im allgemeinen überhaupt nicht erwähnt, dies aus meiner Sicht allerdings sehr zu Unrecht.

Finnland verfügt tatsächlich über ein ungewöhnlich differenziertes System zur finanziellen Förderung von Zeiten der Kinderbetreuung. Nach Ablauf des bezahlten Mutterschutzes gibt es – wie in allen anderen nordischen Ländern – das Elterngeld, in Finnland 9 Monate lang. Das Elterngeld liegt – in Abhängigkeit von der Höhe des Einkommens – zwischen 45 und 65 Prozent des letzten Einkommens. Im Anschluß daran gibt es verschiedene Förderungsangebote des Staates. Eltern, die eine Betreuung ihrer Kinder durch dritte Personen wünschen, können entweder einen Betreuungsplatz in staatlichen Einrichtungen nachfragen oder – staatlich finanziert und überwacht – sich eine anerkannte Tagesmutter suchen, einen Betreuungsplatz in einer privaten Einrichtung nachfragen oder selbst mit anderen Eltern eine Betreuungslösung organisieren.

Diejenigen Eltern, die nach der Phase des Elterngeldes ihre Kinder weiter ganz oder zeitweise zu Hause erziehen wollen, können ein Familienbetreuungsgeld (“child home care allowance”) erhalten, und zwar zunächst bis zur Vollendung des 3. Lebensjahres ihres jüngsten Kindes. Diese Leistung wird überproportional von Niedrigeinkommensfamilien sowie von niedrig qualifizierten Müttern und von Familien mit mehr als einem Kind unter 7 Jahren in Anspruch genommen. Pro Kind liegt das Familiengeld für häusliche Betreuung bei 252 Euro (Stand ’99) monatlich und 84 Euro für jedes weitere Kind unter 3 Jahren sowie 50 Euro für jedes Kind zwischen 3 und 7 Jahren. Einkommensabhängig kann für ein Kind eine Zusatzleistung in Höhe von 168 Euro pro Monat gewährt werden.

Von den gesamten staatlichen Ausgaben zur Förderung der Betreuung von Kindern im Alter von 0-3 Jahren entfallen 26 Prozent auf das Elterngeld, 43 (!) Prozent auf das Familiengeld für häusliche Betreuung (“häusliches Kinderbetreuungsgeld”) und 24 Prozent auf staatlich geförderte Tagesbetreuung durch staatliche und private Stellen (vgl. Ministry of Social Affairs and Health, Finnish Family Policy, Helsinki 1999, S. 16). Bei einem Blick auf die entsprechenden Ausgabenrelationen für die umfassendere Größe der Betreuung von Kindern von 0-7 Jahren verschieben sich diese Relationen natürlich wegen der Bedeutung des Kindergartens für 3-6-Jährige hin zu den öffentlichen und privaten Einrichtungen auf 12, 26 und 47 Prozent.

Die Besonderheit des finnischen Familiengeldes für häusliche Betreuung ist, daß auch für weitere Kinder zwischen 3 und 7 Jahren eine (geringere) Leistung gewährt wird, solange das jüngste Kind noch nicht 3 Jahre alt ist. Darin unterscheidet sich die finnische Regelung vom norwegischen Betreuungsgeld. Letztlich ist die staatliche Förderung der Betreuung weiterer Kinder unter 7 Jahren ein Anreiz für Familien, die häusliche Betreuungsform zu wählen, wenn sie es so wollen. Es gibt also in Finnland ganz und gar nicht eine Abkehr von staatlicher Förderung familiärer Betreuung von Kleinkindern. Wenn auch das jüngste Kind 3 Jahre alt ist und in den Kindergarten kommt, erlischt dieser Förderungsweg. Andere, nicht ganz klare Quellen legen den Eindruck nahe, daß finnische Gemeinden doch die Möglichkeit haben, auch Familien mit Kindern im Alter von 3-7 Jahren finanzielle Unterstützungsleistungen zur Betreuung ihrer Kinder zu gewähren. Darüber hinaus werden private Initiativen bei der Organisierung einer gemeinsamen Kinderbetreuung von über 3-Jährigen in Finnland großzügig gefördert.

Zu Dänemark hier nur eine Bemerkung. Seit 1994 garantiert der dänische Staat Eltern einen Betreuungsplatz für alle Kinder im Alter von 1-5 Jahren. Die Nachfrage ist aber bis heute höher als das Platzangebot. Entsprechend gibt es in vielen Gemeinden Wartelisten. Nun haben die Gemeinden in Dänemark die Möglichkeit, Eltern, deren Kind keinen Betreuungsplatz erhält, ein ergänzendes Betreuungsurlaubsgeld zu gewähren. Dieser Zuschuß kann maximal bei 9210 DM (Stand ’98) jährlich liegen. Dies ist ein weiteres Indiz für einen pragmatischen Grundzug skandinavischer Familienpolitik, der hier in Deutschland noch gar nicht wahrgenommen worden ist.

Zu Frankreichhier nur eine Information. Die Frauenerwerbsquote wird ja in der deutschen Diskussion immer mehr zum Fetisch. Witzigerweise ist die Frauenerwerbsquote in Frankreich niedriger als in Deutschland. Sie liegt bei 57 Prozent im Vergleich zu 61 Prozent in Deutschland. Die höhere Geburtenrate von 1,67 Kindern pro Frau korreliert also nicht immer mit einer höheren Frauenerwerbsquote, wie es heute in der deutschen Diskussion suggeriert wird.

  

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