Regierungen wollen besseren Kinderschutz zum Nulltarif 

– EZB flutet zugleich den Geldmarkt 

– Oder: Wenn das Humanvermögen nichts zählt – FAZ-Aufsatz

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HBF-Lese-Tip, Tübingen, 21. Dezember 2007, Fehlende Links bis ca 15:00 Uhr

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Der erfolgreiche “Kindergipfel bei der Bundeskanzlerin” endete mit den (Weihnachtswunsch)Vorstellungen der Politik für einen künftig verbesserten Kinderschutz. Dabei, so die Familienministerin in einer Klarstellung, sei mehr Geld von Bund und Ländern nicht nötig. Umschichtungen und Effizienzgewinne würden für einen Selbstfinanzierungseffekt sorgen. Zudem sei das schwarz-rote Krippenausbauprogramm auch als großes Kinderschutzprojekt anzusehen1).

Dieses politische Kostenbewußtsein beim Schutz von Leib und Leben bedrohter Kinder steht in auffälligem Kontrast zu den milliardenschweren Rettungsaktionen von Regierungen2) und öffentlichen Institutionen wie der Europäischen Zentralbank3) mit Blick auf die Geldnöte der Banken, die sich bei ihrem globalen Monopoly kräftigst verspekuliert haben. 

Bekanntlich zeigen sich an den öffentlichen Geldströmen, wo die tatsächlichen politischen Prioritäten von Regierungen liegen. Der auffällige Unterschied beim Umgang mit der Not von Kindern und den Banken hat sehr viel mit dem Stellenwert des sogenannten Humanvermögens zu tun – also den Fähigkeiten von Menschen ihren Alltag zu bewältigen und sich in sozialen Gemeinschaften konstruktiv einbringen zu können (z.B. als Manager bei der Höhe ihrer Gehaltsbezüge oder der Definition der Rendite, die Belegschaften zu erwirtschaften haben). 

Der renommierte Sozialwissenschaftler Franz-Xaver Kaufmann und der Wirtschafts- und Sozialstatistiker Carsten Stahmer haben in einem FAZ-Essay dargestellt, in welchem Ausmaß die Geringschätzung des Faktors Humanvermögen institutionalisiert ist. Diese Grundhaltung schlage sich letztlich im tatsächlichen Stellenwert der Familienpolitik (vgl. die haushaltspolitischen Prioritäten) bei den gesellschaftlichen Akteuren nieder.

 

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1)  

AP 20.12.2007; 

Kein zusätzliches Geld für besseren Kinderschutz

Bund und Länder stellen für die auf dem Kindergipfel vereinbarten Maßnahmen zum Schutz der Kinder vor Vernachlässigung und Misshandlung offenbar kein zusätzliches Geld zur Verfügung. Dies machte Familienministerin Ursula von der Leyen heute deutlich. 

 

Die CDU-Politikerin erläuterte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die Beschlüsse des Treffens von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten und den Fachministern. Danach sollen die zuständigen Behörden untereinander und mit der Polizei enger vernetzt werden, um künftig bei Problemfamilien schneller eingreifen zu können.

Außerdem solle es ein „verbindliches Einladewesen“ zu den Vorsorgeuntersuchungen geben. Familien, die auch auf eine zweite Einladung nicht reagieren, sollen vom Jugendamt oder der Gesundheitsbehörde aufgesucht werden. Auf die Frage, ob zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt werden, sagte von der Leyen: „Das ist eine Entscheidung einer jeweiligen Kommune, oder, zum Beispiel beim Gesundheitswesen, ist es eine Entscheidung, ob wir eine weitere Vorsorgeuntersuchung einführen.“

Derzeit sei die Lücke zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr zu groß. „Das ist eine klassische Aufgabe der Krankenversicherung.“ Von der Leyen erinnerte daran, dass der Bund bereits im April für zehn Millionen Euro ein nationales Zentrum für frühe Hilfen aufgebaut habe. Ganz wichtiger Teil des Kinderschutzes sei auch der geplante Ausbau der Kinderkrippen.

und: “RISIKEN FRÜHER ERKENNEN”. Ursula von der Leyen zu Ergebnissen des Kindergipfels – DLF INTERVIEW 20.12.2007

2) Fehlspekulation: POLITISCHES HAFTUNGSRISIKO. Die landeseigene SachsenLB verliert bei Kreditgeschäften in den USA Milliarden. Für das Defizit muss der Freistaat einstehen. Wegen der Krise gerät Regierungschef Milbradt in Bedrängnis. Berliner Zeitung, 13.12.2007; Wolfgang Münchau: AM ENDE HAFTET DER STAAT. Die Kreditkrise wird letztlich Garantien der öffentlichen Hand für Banken nach sich ziehen. Es sieht mittlerweile so aus, als entwickele sich die Kreditmarktkrise zu einer der größeren Finanzkrisen der Geschichte mit Folgen für das globale Finanzsystem und für die Weltwirtschaft insgesamt. Financial Times Deutschland vom 19.12.2007

3) EZB FLUTET DEN GELDMARKT. Europäische Zentralbank stellt Finanzinstituten größte Liquiditätsspritze in ihrer Geschichte bereit. Handelsblatt Nr. 245 vom 19.12.07

 


Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.12.2007 Seite 8

 

Stiefkind Humanvermögen

Aus gesellschaftspolitischer Sicht kommt es nicht auf das Wachstum der Bevölkerung an, sondern auf die Entwicklung des kollektiven Humanvermögens. Deshalb ist es wichtiger, schon geborene Kinder zu fördern, als die Geburtenrate steigern zu wollen. Maßgeblich ist nicht die Zahl der Köpfe, sondern das, was in ihnen steckt.

Von Professor Dr. Franz-Xaver Kaufmann und Professor Dr. Carsten Stahmer

 

Während dreier Legislaturperioden – von 1992 bis 2002 – wurde vom Deutschen Bundestag eine Enquetekommission „Demographischer Wandel“ eingerichtet. Diese aus Parlamentariern und Wissenschaftlern bestehende Kommission hat sich in ihrem Schlussbericht überwiegend mit den Problemen der älteren Generationen beschäftigt. Die Folgen der Zuwanderung kamen in bescheidenem Maß zur Sprache, der Schwund der nachwachsenden Generationen überhaupt nicht; ein Beispiel parteienübergreifender politischer Einäugigkeit.

(…) Vorherrschender Maßstab für die Wohlfahrt eines Landes sind immer noch statistische Angaben, die den unmittelbaren wirtschaftlichen Erfolg widerspiegeln. Nur wenn sich Aktivitäten in Geldgrößen niederschlagen, etwa im Lohn für geleistete Arbeit oder im Geldwert für gekaufte Konsumgüter, werden sie laufend erfasst und in den herkömmlichen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen zu Aggregaten der wirtschaftlichen Leistung zusammengefasst.

Dementsprechend werden Bildungsleistungen im Rechenwerk nur ausgewiesen, soweit sie mittels bezahlter Erwerbsarbeit erbracht werden. Der weitgespannte Bereich von unbezahlten privaten Haushaltstätigkeiten bleibt aber ausgeschlossen. Dazu gehören auch die Betreuung und Erziehung der Kinder durch ihre Eltern beziehungsweise durch andere Familienangehörige wie die Großeltern. Eine für die Zukunft der Gesellschaft zentrale Aufgabe findet damit nur in dem Maße Berücksichtigung, als mit ihr Käufe von Verbrauchs- oder Gebrauchsgütern wie Kleider oder Computer für die Kinder verbunden sind. Unberücksichtigt bleiben auch die Lernaktivitäten der Schüler, die neben dem Einsatz der Lehrer eine wichtige Voraussetzung für den späteren Ausbildungsstand der jungen Menschen sind.

(…) Da das Humanvermögen aber nicht nur auf bezahlten Leistungen beruht, sondern vor allem im Zusammenspiel von Lernenden und Lehrenden, von Eltern und Kindern entsteht, greifen die Konzepte der herkömmlichen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen zu kurz. (..)

(…) Zum Humanvermögen gehören in der hier vertretenen Definition nicht nur die schulische Ausbildung, sondern auch die familiären Leistungen für die Aufbringung der Kinder. Einen ersten Ansatz zur Koppelung dieser beiden wichtigen Komponenten legte das Statistische Bundesamt im Jahr 2003 vor: In der Studie „Zeit für Kinder“, die im Auftrag des Arbeitskreises für Familienhilfe erstellt wurde, konnte erstmals die Veränderung des Humanvermögens umfassend geschätzt werden. Dabei war es ein besonderes Anliegen, nicht die übliche monetäre Bewertung, sondern Ausgangsdaten in Zeitgrößen in den Mittelpunkt zu stellen. Ausgangspunkt der Überlegungen war, dass der Kategorie „Zeit“ eine eigenständige Bedeutung für die gesellschaftliche Analyse zukommt, auch wenn sie im Unterschied zu vielen gesellschaftlich wichtigen Kennzahlen sich nicht in die ökonomische Sprache des Geldes übersetzen lässt.

(….)

In die Betrachtung möglicher Entwicklungspfade der Gesellschaft müssen natürlich auch die längerfristigen Auswirkungen des demographischen Wandels eingehen. In komplexen ökonometrischen Modellen könnten die Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungsentwicklung, Humanvermögen und sozioökonomischem Wandel analysiert werden. Dabei würde sich zeigen, dass der Schwund des Humanvermögens nicht ganz so gravierend ausfällt wie der Rückgang der Bevölkerung im Erwerbsalter, weil die nachwachsenden Generationen im Durchschnitt besser qualifiziert sind als die aus dem Erwerbsleben ausscheidenden. Ferner ließe sich auch abschätzen, was von der Verlängerung der Erwerbsphase und der Einführung eines quartären Bildungssystems des lebenslangen Lernens für die Bewältigung der Zukunft zu erwarten ist.

(…)

Dies gilt auch für die Themen Nachwuchssicherung und Humanvermögen mit ihren familien- und bildungspolitischen Implikationen. Weil die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen die wichtigste Datenbasis für die Politik darstellen, können die demographischen Aspekte der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung erst dann angemessen berücksichtigt werden, wenn sich die Veränderungen des Humanvermögens in einem Satellitensystem in enger Verknüpfung mit dem Kernsystem des Gesamtrechnungswerkes nachweisen lassen. Dann aber würde der bevorstehende Rückgang des Humanvermögens als eine der größten Herausforderungen für Wirtschaft und Politik in Medien und Politik die erforderliche Aufmerksamkeit gewinnen. Das aber ist die Voraussetzung dafür, um der Nachwuchssicherung und dem lebenslangen Lernen den politischen Platz zu erobern, den sie im Interesse unserer gemeinsamen Zukunft benötigen.

Franz-Xaver Kaufmann ist Emeritus für Sozialpolitik und Soziologie der Universität Bielefeld, Carsten Stahmer lehrt Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität 

 

 

 

 

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