Bildungsplanung in der Altenrepublik:
Zwischen Fehlsteuerung und Übersteuerung
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HBF-AKTUELL, Tübingen, 26. Februar 2014, erstellt 15:10 Uhr, Stand 18:45 Uhr
Laut Haushaltsplanung sollen die öffentlichen Bildungsausgaben im letzten Jahr auf 116,6 Mrd. Euro (+4,1%) gestiegen sein, wie das Statistische Bundesamt heute meldet (HPL). Für die Hochschulen im Überlastbetrieb ist das dennoch keine beruhigende Meldung, da sie sich bundesweit mit zum Teil harten Einsparungsvorgaben der Landesregierungen konfrontiert sehen (HPL). Auf Grund der Demographie ist das aus Sicht der Politik zwingend (HPL). Allerdings zeigen die aktuellen Trends im Bildungsbereich (HPL), daß die Regierungen mit ihren bisherigen Reaktionen auf die programmierte Schrumpf-Alterung des Landes erhebliche Negativfolgen produzieren, die sie – unter dem Druck der Wirklichkeit – nur zögerlich einzudämmen suchen (HPL).
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HBF-Volltext-Version
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Laut Haushaltsplanung sollen die öffentlichen Bildungsausgaben im letzten Jahr auf 116,6 Mrd. Euro (+4,1%) gestiegen sein, wie das Statistische Bundesamt heute meldet (Destatis 26.02.14). Für die Hochschulen im Überlastbetrieb ist das dennoch keine beruhigende Meldung, da sie sich bundesweit mit zum Teil harten Einsparungsvorgaben der Landesregierungen konfrontiert sehen:
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Deutschlandfunk Campus & Karriere / Beitrag vom 25.02.2014
Sachsen
Kontinuierliche Kürzungen an sächsischen Hochschulen
Von Ronny Arnold
Jura-Studenten während einer Vorlesung: Die Uni Leipzig hat in den letzten 20 Jahren über 500 Stellen verloren (dpa)
In Sachsen laufen Studierende und Institutsleiter der Universität Leipzig gegen ihr eigenes Rektorat und die Landesregierung Sturm. Aus Geldmangel sollen das Archäologische und das Theaterwissenschaftliche Institut geschlossen, über 1.000 Stellen im Bundesland eingespart werden. (….)
Seit Jahren wird an den sächsischen Hochschulen kontinuierlich gekürzt, allein die Uni Leipzig hat in den letzten zwei Jahrzehnten über 500 Stellen verloren. Und das trotz steigender Studierendenzahlen. Die jetzigen Einschnitte, beschlossen vom Landtag und auf die kommenden sieben Jahre verteilt, fordern sachsenweit einen Abbau von insgesamt 1042 Stellen. Alle Hochschulen im Freistaat sind betroffen: (….)
SPIEGEL Online 30. Januar 2014, 16:28 Uhr
Weniger Geld für Unis
SPAREN GEHT ÜBER STUDIEREN
Ganze Studiengänge stehen an der Hochschule des Saarlands vor dem Aus. Wegen Geldmangel rät der Wissenschaftsrat, Bereiche zu schließen. Ein ähnliches Schicksal droht auch Universitäten in anderen Bundesländern.
VON LENA GREINER
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Auf Grund der Demographie sind die Einsparungen aus Sicht der Politik zwingend: Die Schuldenbremse des Grundgesetzes verlange von Bund (ab 2016) und Ländern (ab 2020) keine neue Schulden mehr zu machen (Stichwort “Generationengerechtigkeit”). Zum anderen führe der Geburtenrückgang in den nächsten Jahren auch zu sinkenden Schüler- und Studentenzahlen. Für sie sei dann weniger Personal und Infrastruktur notwendig (Stichwort “Demographische Rendite” – s.u.)
Allerdings zeigen die aktuellen Trends im Bildungsbereich, daß die Regierungen mit ihren bisherigen Reaktionen auf die programmierte Schrumpf-Alterung des Landes erhebliche Negativfolgen produzieren – etwa durch das überstürzt eingeführte Turbo/G8-Gymnasium (in West-Deutschland), das Kinder und Jugendliche dem altersgeschwächten Arbeitsmarkt früher zuführen sollte:
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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 25.04.2013
‘Die Hektik muss raus’
Ehemaliger Gymnasiallehrer beklagt in einem Buch ein heilloses Chaos im G8
Als Fachbetreuer für Englisch und Geschichte am Gymnasium Albertinum in Coburg hat Rupert Appeltshauser die Einführung des achtstufigen Gymnasiums (G8) an vorderster Linie miterlebt. Nach seiner Pensionierung schrieb er ein Buch über seine Erfahrungen (‘Augen zu und durch? Das achtjährige Gymnasium und die Folgen – eine persönliche Bilanz’; Erich Weiß Verlag). Fazit: Das G8 hat das Bildungssystem in ein heilloses Chaos gestürzt.
SZ: Was sind Ihre drei wichtigsten Kritikpunkte am G8?
Rupert Appeltshauser: Das Schlimmste ist der Zeitmangel. Die Verkürzung um ein Jahr hat die Probleme, die das Gymnasium hatte, verschärft statt sie zu lösen. Der zweite Fehler war die überstürzte, undurchdachte Umsetzung, auf die weder Lehrer noch Schüler vorbereitet waren. Drittens ist das Niveau des Abiturs gesunken, was die Studierfähigkeit der Abiturienten beeinträchtigt. (…)
DER SPIEGEL 22.04.2013, Nr. 17
GENERATION STRESS – WENN SCHULE KRANK MACHT
Hausmitteilung
Betr.: TITEL
Wer sich als Erwachsener an die eigene Schulzeit erinnert, verbindet das kaum mit dem Wort “Stress”. So ging es auch den Autoren unserer Titelgeschichte. Doch bei ihren Recherchen trafen die SPIEGEL-Redakteure auf viele Menschen unter Druck – Schüler, Eltern, Lehrer. Waren die Anforderungen früher tatsächlich geringer? Und: Wie schlimm ist es heute wirklich? Die Journalisten sahen sich in Schulen und Nachhilfe-Instituten um, sie suchten Beratungspraxen und Familien auf, und sie hörten viele Klagen über Stress. “Am Anfang hatte ich alle im Verdacht, Jammerlappen zu sein”, sagt Titelautor Markus Verbeet. Doch er lernte hinzu: Die Belastung etwa durch die Verkürzung der Gymnasialzeit ist offenbar für viele Schüler tatsächlich ein weitaus größeres Problem, als sich vorstellen kann, wer die Schulzeit längst hinter sich hat (…).
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Als nicht weniger problematisch erweist sich zunehmend auch die (europaweite) politische Fixierung auf eine Steigerung der Akademikerquote in einer Gesellschaft. Das hat nicht nur zu einem Ansturm auf die Hochschulen geführt, die damit z.T. völlig überfordert sind (incl. der Wohnungsmärkte). Ein weiterer Effekt ist die Sorge von immer mehr Eltern, daß ihr Nachwuchs ohne einen Gymnasialabschluß beruflich abgehängt werden könnten. Diesem Erwartungsdruck kann jedoch ein wachsender Teil der Kinder nicht genügen – oder doch nur unter größten Anstrengungen:
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Tagesspiegel 27.08.2013 19:12 Uhr
Berliner Gymnasien
Noch mehr Schüler scheitern am Probejahr
von Susanne Vieth-Entus
Wer hoffte, dass die hohe Rückläuferzahl im Sommer 2012 den schwierigen Bedingungen des Doppeljahrgangs geschuldet war, sieht sich jetzt getäuscht: Berlins Quote ist sogar gestiegen.
Nicht geschafft. Insgesamt 770 von 9160 Siebtklässlern mussten zu Beginn dieses Schuljahres auf eine Sekundarschule wechseln. – Foto: dpa
Viele Anstrengungen, aber kein sichtbares Ergebnis: Der Anteil der Gymnasiasten, die am Probejahr gescheitert sind, ist nochmals leicht gestiegen und liegt jetzt bei über acht Prozent. Insgesamt 770 von 9160 Siebtklässlern mussten zu Beginn dieses Schuljahres auf eine Sekundarschule wechseln. Dies geht aus der aktuellen Bilanz der Bildungsverwaltung hervor, die dem Tagesspiegel vorliegt. Viele von ihnen mussten in Rückläuferklassen aufgefangen werden, weil es nicht genug freie Plätze an regulären achten Klassen der Sekundarschulen gab.
Besonders hoch bleibt der Prozentsatz der Schüler, die scheitern, nachdem sie das Gymnasium trotz einer Sekundarschulempfehlung gewählt hatten. (…)
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 20.08.2013, Thema
BÜFFELN IN DEN FERIEN
In den vergangenen Jahren ist die Zahl jener Schüler, die in den großen Ferien Nachhilfe bekommen, deutlich gestiegen. Dieser Trend rührt unter anderem von Leistungserwartungen, die frühere Generationen so nicht kannten. Pädagogen raten, nicht zu viel von Kindern zu erwarten. Die Münchner Farinelli-Schule etwa geht Ferienbetreuung anders an: Wer lernen will, kann lernen – aber ohne Druck
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Auch der pädagogisch gut begründete Wunsch……(HBF-Premium)…
Auch auf dem Arbeitsmarkt hat die politisch forcierte Akademisierung des Nachwuchses zu Fehlentwicklungen geführt, an denen jetzt die Jugend (nicht nur in Deutschland) leidet….
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Europäische Bildungsminister
Sorge wegen schlecht ausgebildeter Akademiker
Etwa 21 Prozent aller Europäer mit Hochschulabschluss arbeiten in Berufen, für die gar kein Studium nötig wäre. Das Thema alarmiert die Bildungsminister in Brüssel: Die akademische Bildung lasse zu wünschen übrig – vor allem in Spanien und Italien.
Lesermeinungen (25)
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….und auch bei der Wirtschaft führt die bildungspolitische Priorität für Akademiker zu immer größerer Unzufriedenheit:
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Beliebtheit des Studiums sorgt für Azubi-Mangel
Lehrstellen bleiben häufiger unbesetzt
Von Stefan von Borstel
Junge Menschen beginnen häufiger ein Studium – eine Lehre ist für sie dagegen immer weniger attraktiv. Wie das Statistische Bundesamt berichtete, stieg die Zahl der Studenten zwischen 2006 und 2012 um 25 Prozent an, die Zahl der Schüler, die das Abitur anstreben, um 16 Prozent. Dagegen ging die Zahl der Teilnehmer an einer beruflichen Ausbildung im gleichen Zeitraum um fünf Prozent zurück. (…)
Das Handwerk und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) warnen vor dem zunehmenden Trend zur Akademisierung. Es werde immer schwerer, Lehrstellen zu besetzen. “Der Trend zu Abi und Studium ist fatal und trifft das Handwerk”, sagte Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer der “Welt”. Die Zahl der Schulabgänger aus Haupt- und Realschulen sank innerhalb von zehn Jahren um 150.000, die Zahl der Abiturienten stieg dagegen um 90.000. Wollseifer: “Ein Großteil der Eltern schickt seine Kinder auf Hochschulen, obwohl für viele ein praxisfernes Studium gar nicht geeignet ist.” Der Handwerkspräsident forderte ein Umdenken in der Gesellschaft: “Berufliche Bildung ist gleichwertig der akademischen Bildung – diese Botschaft muss nun bei den Menschen ankommen.” Leistungsstarke Schulabgänger könnten sich für Führungspositionen qualifizieren, warb Wollseifer um die Abiturienten.
“Dem Wirtschaftsstandort Deutschland droht nachhaltiger Schaden, wenn der Trend zur Akademisierung um jeden Preis nicht gestoppt wird”, warnt auch DIHK-Präsident Eric Schweitzer. Jahrelange Forderungen nach einer Erhöhung der Studierendenquote hätten dazu geführt, “dass Hörsäle aus allen Nähten platzen, während Unternehmen händeringend Azubis suchen”.(…)
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Frankfurter Rundschau, Mittwoch den 12.02.2014 Meinung 10 – 11
GASTBEITRAG
Studieren muss nicht sein
Es ist Zeit, mit dem Klischee von den Vorzügen akademischer Ausbildung aufzuräumen. Das duale System ist die Alternative.
Von Mathias Müller*
Benjamin Franklin hat gesagt: „Eine Investition in Wissen bringt noch immer die besten Zinsen.“ Dieser Satz trifft auch heute noch zu. Allerdings glauben die meisten, ein Hochschulstudium sei die größte Investition ins eigene Wissen. Jahr für Jahr mahnt die OECD, in Deutschland würden zu wenig junge Menschen ein Studium beginnen. Medien und Politik stilisieren den Akademiker zum Idealbild. In der Folge ist die Zahl der Studienanfänger in Deutschland zwischen 2000 und 2013 von 33 auf 57 Prozent eines Jahrgangs gestiegen – Tendenz weiter steigend. (…)
(…) Es ist nämlich auch mit den individuellen Vorteilen nicht weit her, die sich Jugendliche und Eltern von einem Hochschulstudium versprechen. Erstens ist eine Ausbildung ebenso wie ein Studium die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Zweitens beziehen Akademiker nicht zwangsläufig ein höheres Gehalt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat herausgefunden, dass der Verdienst stark von der Fachrichtung abhängt. Frauen, die eine Berufsausbildung im Bereich Marketing/Werbung absolviert haben, verdienen im Durchschnitt mehr als studierte Volkswirtschaftlerinnen. Das Gleiche gilt für Versicherungskaufleute im Vergleich zu Lehrern. In Zukunft wird sich die Höhe der Gehälter weiter diversifizieren: Wenn es Akademiker wie Sand am Meer, aber nur wenige ausgebildete Fachkräfte gibt, regelt der Markt, wer welchen Lohn nach Hause trägt(…)
(….) Rund 25 Prozent der Studienanfänger – in den Ingenieurwissenschaften sogar 50 Prozent – beenden ihr Studium ohne Abschluss.
Mit gezielter Berufsorientierung und der Aufklärung über die guten Perspektiven von ausgebildeten Fachkräften bleibt manchem der Umweg über die Hochschule erspart. Wie im realen Leben gilt also: Fehlinvestitionen in Wissen bringen keine Zinsen.(…)
*Professor Dr. Mathias Müller ist Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) in Frankfurt am Main.
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Unter dem Druck der Wirklichkeit beginnt die Politik diese unerwünschten Wirkungen nur zögerlich einzudämmen:
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Schulpolitik
UNAUSWEICHLICHE RÜCKKEHR
Die Abkehr von G8 steht inzwischen in allen westlichen Bundesländern außer Frage. Unklar ist nur, wie entschieden die Rückkehr zur neunjährigen Gymnasialzeit ausfällt. Schulpolitik gegen den Willen der Eltern rächt sich.
Von Heike Schmoll
In allen westlichen Bundesländern wird es in nächster Zeit wieder die Möglichkeit geben, das Abitur nach dreizehn Jahren abzulegen. Die Abkehr von G8 steht inzwischen außer Frage, unklar ist nur, wie entschieden die Rückkehr zur neunjährigen Gymnasialzeit ausfällt. Hessen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg überlassen es den Schulen weitgehend selbst, ob sie G8, G9 oder beides nebeneinander anbieten. (…)
In Hamburg hat eine Befragung ergeben, dass mehr als siebzig Prozent der Eltern schulpflichtiger Kinder strikt gegen G8 sind. Der Ausgang des Volksbegehrens, das möglicherweise in diesem Sommer zustande kommt, dürfte also einigermaßen klar sein. (…)
(…)
Eine Lektion nach endlosen Debatten
Ganz offenkundig gelingt es nicht mehr, Schulpolitik gegen den Willen der Eltern zu machen. Das ist die Lektion, die Bildungspolitiker aus den endlosen Diskussionen über das achtjährige Gymnasium, das die einen sofort als geraubte Kindheit schmähten, die anderen als Chance für begabte junge Leute sahen, zu lernen haben.
Nicht aufgegangen ist auch die Rechnung der Bildungspolitiker, die Schularten neben dem Gymnasium (Stadtteilschule, Sekundarschule und so weiter) mit neunjähriger Laufzeit anzubieten, um damit die möglicherweise weniger für das Gymnasium geeigneten, weniger reifen Kinder anzulocken. Wer etwa in Berlin von einem Gymnasium an eine Sekundarschule zurückgehen muss, empfindet das als Schmach. Die Eltern trauen den neuen integrativen Schularten nicht, mehr als siebzig Prozent wünschen sich ein Gymnasium für ihr Kind.
Aber mit so hohen Gymnasialquoten sind achtjährige Bildungsgänge nicht zu schaffen. Das hätten die Politiker wissen können. Denn schon nach den ersten Versuchen mit der verkürzten Gymnasialzeit in Baden-Württemberg hat der verantwortliche Bildungsforscher vor einer flächendeckenden Einführung gewarnt. Er war der festen Überzeugung, dass das G8 nur für die begabtesten unter den Gymnasiasten geeignet sei. Doch scherte das die damalige Kultusministerin Schavan wenig, die das achtjährige Gymnasium kurz darauf im ganzen Land einführte.
Turbo-Abitur wider Traditionen
(…) Eine Rückkehr zum Abitur nach dreizehn Jahren im früheren Sinne wird es trotzdem nicht geben, hoffentlich auch nicht jenen Leerlauf im zweiten Schulhalbjahr der dreizehnten Klasse wie in einigen Ländern vor der Reform. Es käme jetzt darauf an, die zusätzliche Zeit für Wiederholungen, das Einüben selbständigen Denkens und eine intensive Vorbereitung auf das im Studium geforderte wissenschaftliche Arbeiten zu nutzen. Nur dann wird die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium keine Enttäuschung werden.
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Zum Thema siehe auch:
- Zur Entdeckung der demographischen Rendite: Noch weniger Kinder, um mehr Geld für den Nachwuchs zu haben? – Die Logik einer altersdementen Gesellschaft! (HBF 18.07.06)
- HBF-Themen-Archiv “Alterung …./ Reaktion”
- HBF-Themen-Archiv “Sparen an Kindern und Jugendlichen / Bildung”