Beunruhigende Ahnungslosigkeit in der Bevölkerung:
Leben ohne Kinder gefährdet Deutschlands Zukunftsfähigkeit
/ Neue Repräsentativstudie belegt steigendes Risiko der Altenrepublik
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HBF-Aktuell, Tübingen 15. September 2014, erstellt 15:37 Uhr, Stand 18:40 Uhr
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Im alternden Deutschland lebt nur noch eine kleine Minderheit in Haushalten mit Kindern (HPL). Die sich daraus ergeben Erfahrungsdefizite über deren Lebenswirklichkeit blockieren immer öfter eigentlich notwendige politische Korrekturen (vgl. z.B. HBF 2013). Die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Brisanz dieser Entwicklung belegt jetzt auch eine aktuelle Repräsentativstudie zu einem zentralen Baustein der Zukunftsfähigkeit (HPL und HBF 2014).
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HBF-VOLLTEXT
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Im alternden Deutschland lebt nur noch eine kleine Minderheit in Haushalten mit Kindern:
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Rückläufig hingegen ist die Zahl der Familien, das heißt der Eltern-Kind-Gemeinschaften mit ledigen Kindern jeden Alters im Haushalt. Ihr Anteil an allen Lebensformen ist in den letzten 15 Jahren um 6 Prozentpunkte auf 29 % gesunken.
In Absolutzahlen bedeutet dies: Es gibt heute 1,4 Millionen Familien weniger als noch vor 15 Jahren. Besonders deutlich ist die Entwicklung im Osten: Die Zahl der Familien ist dort um 28 % zurückgegangen, im Westen um 6 %.
In über 70 % der Haushalte in Deutschland leben keine Kinder.
(aus: „Statistisches Jahrbuch 2012: DEUTSCHLAND ALTERT – Leben von Alt und Jung im Wandel”. Statement von Präsident Roderich Egeler. Statistisches Bundesamt Pressekonferenz 10.10.12)
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Die sich daraus ergeben Erfahrungsdefizite einer wachsenden Bevölkerungsmehrheit über die Lebenswirklichkeit von Familien blockieren immer öfter eigentlich notwendige politische Korrekturen (vgl. z.B. HBF 05.04.13). Die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Brisanz dieser Entwicklung belegt jetzt auch das heute veröffentlichte erste Bildungsbarometer des ifo-Wirtschaftsforschungsinsituts (München). Diese Repräsentativbefragung der gesamten deutschen Bevölkerung offenbart Erwartungen an das Bildungssystem, die z.T. im diamteralen Gegensatz zu den praxisgestützten Forderungen der Eltern stehen, die etwa in der gerade erst veröffentlichten 3. Jako-o-Bildungsstudie nachzulesen sind (vgl. HBF 12.09.14).
So legt die Bevölkerung laut ifo-Bildungsbarometer besonders großen Wert auf das gute Abschneiden der Schüler/innen im internationalen (Pisa-)”Bildungsvergleich”.
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Eine erfolgreiche Bildungspolitik ist der deutschen Bevölkerung ein wichtiges Anliegen: Über drei Viertel (79%) der Bevölkerung geben an, dass es ihrer Meinung nach (sehr oder eher) wichtig ist, dass deutsche SchülerInnen bei internationalen Tests von Schülerleistungen im Vergleich zu anderen Ländern gut abschneiden (vgl. Abb. 1).
Da in den Medien und Schulen in letzter Zeit häufig behauptet wird, die Bevölkerung sei »PISA-müde«, haben wir einem Teil der Befragten die Frage in leicht geänderter Fassung gestellt: Statt von »internationalen Tests von Schülerleistungen« zu sprechen, sprechen wir explizit vom »internationalen PISA-Test». Trotz der angeblichen PISA-Müdigkeit der Bevölkerung ändert dies die Einschätzung nicht wesentlich: 73% der Bevölkerung finden es (sehr oder eher) wichtig, dass Deutschland beim PISA-Test im Vergleich zu anderen Ländern gut abschneidet.
Der Anteil, der ein gutes Abschneiden bei internationalen Tests für wichtig hält, ändert sich ebenfalls kaum (79%) bei dem weiteren Teil der Befragten, der explizit nach der Wichtigkeit »für den zukünftigen Wohlstand unseres Landes« gefragt wird. Allerdings steigt dabei der Anteil, der die Schülerleistungen für »sehr« (und nicht nur »eher«) wichtig hält, von 25% auf 31%.
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aus: ifo Schnelldienst 18/2014 – 67. Jahrgang – 25. September 2014, S. 5
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Dieser hohe Stellenwert Pisa-gerechter Schulleistungen in der Gesamtbevölkerung zeugt von wenig Kenntnis der Materie. Fachleute kritisieren schon lange den eindimensionalen Bildungsbegriff, der dabei als Vergleichsmaßstab angelegt wird (vgl. zuletzt HBF 12.05.14). Eltern achten bei ihren Kindern zwar auch auf Leistung (vgl. HBF 12.09.14), allerdings ist ihnen die Entwicklung eines ausgeprägten Sozialverhaltens noch viel wichtiger. Eine Tugend, auf die der umverteilende Sozialstaat mit fortschreitender Alterung unverzichtbar angewiesen ist:
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Der eher ganzheitliche orientierte Bildungsbegriff der Eltern verlangt nach einer möglichst individuellen Förderung der Kindern durch die Lehrer/innen in kleinen Klassen. Eine Vorstellung, die die Bildungsökonomen des ifo-Instituts ablehnen:
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Eine sehr deutliche Mehrheit der deutschen Bevölkerung zieht also kleinere Klassen den anderen Ausgabenmöglichkeiten im Schulsystem vor. Das ist insofern bemerkenswert, als Klassenverkleinerungen zwar mit sehr hohen Kosten verbunden sind, nach vorliegenden umfangreichen Forschungsergebnissen aber zumeist nicht systematisch mit besseren Schülerleistungen einhergehen.
(aus: Was die Deutschen über die Bildungspolitik denken -Ergebnisse des ersten ifo Bildungsbarometers. ifo Schnelldienst 18/2014 – 67. Jahrgang – 25. September 2014, S. 7)
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siehe dazu:
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Die Welt 06.02.14
WIE WICHTIG SIND KLEINERE KLASSEN?
Viele Schulpraktiker begrüßen die deutlich gesunkenen Klassenfrequenzen, weil sich Lehrer besser um heterogene Schülerschaft kümmern können. Doch es gibt auch Nachteile
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weitere Einzelheiten aus dem Artikel bei HP-PLUS
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In der Gesamtbevölkerung finden kleinere Klassen und weitere Qualitätsverbesserungen zwar Zustimmung – aber nur wenn sie kein zusätzliches Geld kosten:
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Dass gute Bildung der deutschen Bevölkerung wichtig ist, spiegelt sich auch in der Bereitschaft zu Ausgabenerhöhungen im Bildungsbereich wider. So sind über zwei Drittel (71%) der Meinung, die staatlichen Ausgaben für Schulen sollten steigen (vgl. Abb. 3).
Diese Zustimmungsrate verringert sich allerdings deutlich auf 50% in der Teilgruppe der Befragten, die vor der Beantwortung der Frage darüber informiert wurde, dass die durchschnittlichen Bildungsausgaben pro SchülerIn jährlich 6 400 Euro betragen (Datenquelle: Statistisches Bundesamt 2013). (…)
Besonders niedrig fällt die Zustimmung zur Erhöhung staatlicher Ausgaben für Schulen in der Teilgruppe der Befragten aus, die in der Frage explizit auf die Notwendigkeit von Steuererhöhungen für zusätzliche Staatsausgaben hingewiesen wurde: Nur ein Viertel findet, dass Steuern für die Finanzierung von Schulen steigen sollten. Wird der Hinweis auf Steuererhöhungen mit Informationen zur Höhe der Bildungsausgaben kombiniert, hat die zusätzliche Ausgabeninformation keinen wesentlichen zusätzlichen Effekt. Es ist bemerkenswert, dass sich eine deutliche Mehrheit für staatliche Ausgabenerhöhungen für Schulen in eine deutliche Minderheit verwandelt, sobald die Notwendigkeit von Steuerfinanzierung deutlich gemacht wird.
(…)
°aus: ifo Schnelldienst 18/2014 – 67. Jahrgang – 25. September 2014, S. 6
und HP-PLUS
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An der Tatsache, daß mehr Geld ins Bildungssystem fließen muß besteht allerdings nicht nur für die Eltern keinerlei Zweifel:
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Die Welt, Hamburg 15.09.14
Opposition beklagt hohen Unterrichtsausfall an Schulen
Nur 86 Prozent der Stunden werden regulär erteilt. In einzelnen Klassenstufen wird jede zweite oder dritte vertreten
Von Geneviève Wood und Tillmann Becker-Wahl
Obwohl der Senat eine Reihe von Maßnahmen ergriffen hat, um den Unterrichtsausfall an den Schulen zu verringern und die Qualität des Vertretungsunterrichts zu steigern, fallen in Hamburg immer noch 1,2 Prozent der Stunden ersatzlos aus. 86,4 Prozent des Unterrichts wird regulär erteilt – der Rest sind Projekte und Vertretungen. Die Opposition fordert nun mehr Qualität in den Vertretungsstunden und mehr Geld für Vertretungsreserven. (…)
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SPIEGEL Online 04. Mai 2014, 10:07 Uhr
Personalmangel
HUNDERTE SCHULEN HABEN KEINEN DIREKTOR
In NRW ist jede neunte Rektorenstelle an Grundschulen unbesetzt, in anderen Bundesländern sieht es laut einem Zeitungsbericht ähnlich aus. Warum finden sich keine Interessenten? Gewerkschafter glauben, den Grund zu kennen.
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Tagesspiegel 12.08.2014 17:46 Uhr
Förderung für Schüler und Studierende
ZAHL DER BAFÖG-EMPFÄNGER SINKT
Die Zahl der Bafög-Empfänger ist im vergangenen Jahr gesunken. Das liegt auch daran, dass die Freibeträge seit Jahren eingefroren sind.
von Tilmann Warnecke
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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 14.07.2014
20 MILLIARDEN EURO FEHLEN
Die Kanzler, also Verwaltungschefs, der deutschen Universitäten warnen vor dem Verfall ihrer Gebäude.
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Gesellschaftspolitisch brisant ist zudem ein weiteres Ergebnis des ifo-Bildungsbarometers. Die Bevölkerungsmerheit stimmt dem “Traum” von Politik und Bildungsexperten nach verpflichtenden Ganztagsschulen klar zu – selbst wenn es mehr kostet:
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Der Ausbau von Ganztagsklassen und -schulen ist eine der großen Reformanstrengungen im deutschen Schulsystem der letzten Jahre (vgl. etwa Aktionsrat Bildung 2013). Eine flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen wird von der deutschen Bevölkerung deutlich befürwortet: 60% der Befragten sind dafür, dass Deutschland generell zu einem Ganztagsschulsystem wechselt, in dem alle Kinder bis 15 Uhr in der Schule sind (vgl. Abb. 9). Nur 28% lehnen ein Ganztagsschulsystem für alle Kinder ab.
Auch wenn man ganz explizit darauf hinweist, dass alle Kinder »verpflichtet« sind, bis 15 Uhr in der Schule zu bleiben, ändert sich diese Zustimmung nicht in signifikanter Weise (57% Zustimmung, 29% Ablehnung). Wird ein Hinweis darauf gegeben, dass das flächendeckende Anbieten von Ganztagsschulen gut 9 Mrd. Euro im Jahr kosten würde, so ist die Zustimmungsrate zwar statistisch signifikant niedriger, trotzdem ist eine Mehrheit von 55% für das Ganztagsschulsystem (35% Ablehnung).
aus: ifo Schnelldienst 18/2014 – 67. Jahrgang – 25. September 2014, S. 11
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Ganz anders dagegen bei den Eltern: Obwohl sie heute massiv unter Zeitmangel leiden, ist dennoch nur eine klare Minderheit von 30% für die verpflichtende Ganztagsschule (“mit verbindlichem Nachmittagsprogramm”):
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Zum Thema siehe auch:
HBF-Themen-Archiv “Bildungs-/ Schulpolitik”
Schrumpfende Greisenrepublik: Alte und Kinderlose gegen mehr Familienhilfen – Studie belegt brisanten Verteilungskonflikt (HBF 02.12.09)
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