Hauptsache Arbeit!
– Die Botschaft der „Agenda-2010-Republik“ kommt bei den Kleinsten an
/ Steigende Erwartungen erhöhen aber auch Druck auf verschlankten Staat
/ Kinderwerte-Monitor veröffentlicht
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HBF-Aktuell, Tübingen 17. September 2014, erstellt 14:40 Uhr, Stand 16:07 Uhr
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Der neue Kinderwerte-Monitor (HPL) bestätigt die ausgeprägte Fähigkeit der Kinder, sich mit den politisch geschaffenen Rahmenbedingungen (vgl. dazu HBF 2013 und HBF-Themen-Archiv) für sich und ihre Eltern zu arrangieren (HPL). Allerdings steigen damit auch die Erwartungen an den verschlankten Staat (HPL). Zudem genießt die politisch forcierte “Modernisierung” der Gesellschaft tatsächlich weitaus weniger Rückhalt, als sich die Akteure/innen in Politik, Wirtschaft und Verbänden wünschen (HPL).
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HBF-VOLLTEXT
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Der neue Kinderwerte-Monitor der Zeitschrift Geolino und von Unicef bestätigt die ausgeprägte Fähigkeit der Kinder, sich mit den politisch geschaffenen Rahmenbedingungen (vgl. dazu Jürgen Borchert: Sozialstaatsdämmerung – in: HBF 19.08.13 und HBF-Themen-Archiv) für sich und ihre Eltern zu arrangieren. Selbst Kinder zwischen 6 und 14 Jahren wissen inzwischen, daß ihre Familien auf eine doppelte Erwerbstätigkeit der Eltern angewiesen sind, wenn sie als Familie auskömmlich leben wollen:
Dagegen leiden die Eltern deutlich unter dem berufsbedingten Mangel an Zeit für ihre Kinder. Die Unzufriedenheit steigt dabei mit dem Umfang der wöchentlichen Erwerbstätigkeit:
HBF-Lesehilfe: Z.B. haben Mütter die höchste Zufriedenheit (34% “sehr zufrieden”), die weniger als 20 Stunden in der Woche arbeiten. Bei mehr als 38 Stunden halbiert sich diese Zahl auf nur noch 17%.
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Selbst bei den (Grundschul-)Kindern hinterläßt die Arbeitsmarktzentrierung unserer Gesellschaft immer deutlichere Spuren…:
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“Ich muss viele Kenntnisse besitzen, viel wissen und um gute Zensuren kämpfen, damit ich später nicht arm bin.” (9 Jahre)
… und verändert ihren Wertehorizont:
Mit der sinkenden Familienzeit steigen allerdings auch die Erwartungen an den verschlankten Staat: Eltern bleiben zwar die zentralen Wertevermittler für ihre Kinder, jedoch sollen jetzt auch Lehrer/innen diese Rolle deutlich stärker als früher wahrnehmen:
Dabei ist aus Sicht der Lehrer die Aufgabe, verstärkt Erziehungsaufgaben wahrnehmen zu müssen, ein maßgeblicher Streßfaktor, der immer öfter (mit) zum Burnout führe:
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Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) 09. April 2014
Immer mehr Lehrkräfte leiden an psychischen Erkrankungen
Prominente Experten und BLLV fordern mehr Prävention
Ausgebrannt: Damit es nicht soweit kommt, fordert der Aktionsrat Bildung mehr Prävention und Hilfe für Lehrkräfte. Foto: D. Braun / pixelio.de
Lehrer unter Druck: 30 Prozent der Beschäftigten im Bildungswesen leiden unter psychischen Problemen. Der Aktionsrat Bildung der Bayerischen Wirtschaft fordert mehr frühzeitige Präventionsmaßnahmen. Das Kultusministerium hält das nicht für notwendig.
Mangelndes Prestige des Lehrerberufs, Mobbing, Überstunden und eine häufig fehlende Feedback-Kultur seien einige der Gründe, warum die Diagnosen psychischer Erkrankungen im Bildungswesen anstiegen, heißt es in einem jetzt vorgestellten Gutachten des Expertengremiums. Diesem gehören namhafte Wissenschafter wie Pisa-Experte Manfred Prenzel oder der Ökonom Ludger Wößmann vom Münchern ifo-Institut an. „Die Belastungen haben deutlich zugenommen“, sagt dazu auch der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), Klaus Wenzel.
Hinzu komme, dass Erziehungsaufgaben immer mehr auf die Schule abgewälzt würden. Die Folge: Burnout-Symptome wie chronische emotionale Erschöpfung, Schlafstörungen und eine Unfähigkeit, abschalten zu können, könnten dann zu Fehlzeiten und Frühpensionierungen führen.
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Selbst organisatorisch sind die Schulen für diese Aufgabe wohl kaum gerüstet, wie das vereinzelt zu beobachtende Chaos beim Schulstart selbst im reichen Baden-Württemberg erkennen läßt:
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Pressemitteilung Regierungspräsidium Tübingen, Freitag, 12. September 2014 23:29
Schulen im Regierungsbezirk starten gut aufgestellt ins neue Schuljahr
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Schwäbisches Tagblatt 17.09.14, Tübingen, Leserbriefe
Beim Schulanfang an der Gemeinschaftsschule West klemmt’s.
IM DURCHEINANDER
Stundenausfall vom ersten Tag an, ständiger Lehrerwechsel und Unklarheiten bis zu den Herbstferien. Wir fragen uns, was das Staatliche Schulamt Tübingen eigentlich für eine Mitarbeiter- und Bildungspolitik betreibt. Während andere Schulen schon vor den Sommerfellen die Lehrbücher, Materiallisten und Stundenpläne für das neue Schuljahr ausgeben, befindet sich die Gemeinschaftsschule West im Durcheinander.
Wo mancher Schüler „cool, es geht mal wieder locker los” posaunt, herrscht für die Stundenplanzauberer und Lehrer/innen Horror. Wie sollen Lehrer/innen die Betreuung ihrer eigenen Kinder organisieren, wenn sie bis zum Schluss flexibel einsetzbar bleiben sollen? Wie bereiten sich junge Kolleg/innen vor, wenn sie in der zweiten Septemberwoche noch nicht wissen, an welcher Schule und vor welchen Klassen sie stehen? Wie sollen berufstätige Eltern von Schulkindern ihre Termine und die ihrer Kinder festmachen?
Da bedarf es tatsächlich so einiger Fachtipps zum entspannten Schulanfang, wie wir gelassen unseren Familienalltag rund um die Schule organisieren können. Das Regierungspräsidium sieht die Schulen im Kreis gut aufgestellt. Ob die Realschule und die Werkrealschule der Gemeinschaftsschule West auch etwas davon abbekommen werden? Letztes Schuljahr konnte Stundenausfall, etwa im Hauptfach Theater, nur durch die Mitarbeit von Eltern aufgefangen werden. Wir Eltern wünschen uns für unsere Kinder, dass sie ihre Motivation nach den langen Sommerferien nicht gleich im Chaos der ersten Wochen verlieren und verstehen nicht, warum das so schwierig ist.
Kathrin Bischoff, Tübingen
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Für noch mehr Druck auf die Lehrer und die temporientierten politischen Bildungsplaner (z.B. G8-Gymnasium, Bachelor-Studiengänge) sorgt zudem die Erwartung der Kinder, sich im Unterricht viel stärker als bisher einbringen zu können. So finden “58% der Kinder finden es total wichtig, sagen zu dürfen, was sie denken.” In der Schulwirklichkeit findet das jedoch kaum statt:
Aufschlußreich in dem Kinderwerte-Monitor 2014 ist zudem noch ein weitere Aspekt: Die politisch forcierte “Modernisierung” der Gesellschaft hat tatsächlich weitaus weniger Rückhalt, als sich die Akteure/innen in Politik, Wirtschaft und Verbänden wünschen. So kommen aus Sicht der Mütter nur 33% der Kinder mit der Berufstätigkeit der Eltern zurecht. Auch die persönliche Zufriedenheit der Mütter und Väter durch Erwerbsarbeit wird politisch vollkommen überschätzt (vgl. Frage “Durch Arbeit ausgeglichener und zufriedener”):
Zum Thema siehe auch:
• HBF-Themen-Archiv “Arbeitsmarkt- statt Familienpolitik”
• HBF-Themen-Archiv “Keine Zeit für…Familie”
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