Unbehagen:
Zweifel an der modernisierten Familienpolitik fressen sich durch die Mittelschicht
Mehr Raum fürs Leben und weniger Ideologie
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HBF-Aktuell, Tübingen 8. Oktober 2014, erstellt 14:15 Uhr, Stand 20:55 Uhr

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Das gemeinsame Konzept von Regierung und Wirtschaft zur Neuausrichtung der Familienpolitik (vgl. HBF-Dokument 2004) ist inzwischen fast vollständig abgearbeitet (vgl. HBF-Themen-Archiv). Die der Öffentlichkeit in Aussicht gestellten Ergebnisse lassen jedoch weiterhin auf sich warten (HPL). Konferenzen zu den Gründen dafür erfreuen sich daher bei den familien- und frauenpolitischen Vorkämpferinnen aus Politik, Wirtschaft, Verbänden und Wissenschaft eines ungebrochen großen Interesses (HPL). Neuen Lösungen kommen sie jedoch selbst nach Auffassung wohlwollender Beobachterinnen dabei keinen Schritt näher (HPL). Sogar im bislang Vorbild gebenden Ausland lasse der genauere Blick wenig Hoffnungsvolles erkennen (HPL und HBF 2014a). Offenkundig sei die Alltagswirklichkeit komplexer als in der Experten/innen-Welt bedacht (HPL). Unbeantwortet bleibe vor allem die eigentliche Kernfrage (HPL), auf die eine der renommiertesten deutschen Soziologinnen bereits vor 40 Jahren in Zuge einer Aufsehen erregenden Studie aufmerksam gemacht hatte (HPL).

Daß die heute durchgesetzten familien- und frauenpolitischen Konzepte genau daran kranken, bekommen immer mehr der politisch hofierten Leistungsträgerinnen/er zu spüren und machen ihrer Enttäuschung darüber auch höchst medienwirksam Luft (HPL und HBF 2014b). Selbst wenn die AfD mit ihren tatsächlich fundamental anderen Positionen für diese gesellschaftlich dominierende Gruppe derzeit keine Alternative ist (HPL), gibt es zweifelsfrei ein großes Bedürfnis nach Antworten jenseits des etablierten Mainstreams (HPL).

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HBF-VOLLTEXT

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Das gemeinsame Konzept von Regierung und Wirtschaft zur Neuausrichtung der Familienpolitik (vgl. HBF-Dokument 08.11.04) ist inzwischen fast vollständig abgearbeitet (vgl. HBF-Themen-Archiv “Arbeitsmarkt- statt Familienpolitik”). Die der Öffentlichkeit in Aussicht gestellten Ergebnisse lassen jedoch weiterhin auf sich warten:

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(…) ist die Beweislage erdrückend: Gender-Pay-Gap, Gender-Wealth-Gap, Gender-Pension-Gap – die Ökonomen kamen mit dem Klicken durch ihre Präsentationen kaum hinterher, so viele Tabellen hatten sie aufzubieten um zu belegen, dass Frauen weniger verdienen, weniger besitzen und im Alter weniger bekommen als Männer, insbesondere übrigens, wenn sie verheiratet sind oder waren und Mütter sind. Dies gepaart mit den Statistiken über Scheidungen, gescheiterte Beziehungen und Alleinerziehende

(aus: Die Ökonomie der Liebe. Von Alexandra Borchardt. SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 07.10.2014)

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Konferenzen zu den Gründen dafür erfreuen sich daher bei den familien- und frauenpolitischen Vorkämpferinnen aus Politik, Wirtschaft, Verbänden und Wissenschaft eines ungebrochen großen Interesses:

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Wenn eine Konferenz des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung über Frauen, Karriere und Familie mit dem sperrigen Titel „Gender Studies Tagung“ mit mehr als tausend Anmeldungen doppelt überbucht ist; wenn man in das für diesen Donnerstag in der Deutschen Oper Berlin angesetzte Forum des Vereins „Frauen in die Aufsichtsräte“ seit langem nur noch über Warteliste hereinkommt…

(ebda)

Neuen Lösungen kommen sie jedoch selbst nach Auffassung wohlwollender Beobachterinnen dabei keinen Schritt näher:

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….Deutet das eher auf Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen oder auf Verzweiflung über deren Abwesenheit hin? Es belegt zumindest, dass der Hunger nach Informationen, Strategien und Lösungen groß ist. Denn mit der Gender-Forschung verhält es sich offenbar wie mit den Erkenntnissen zu Demenz-Krankheiten: Die Diagnose verbessert sich stetig, Therapie oder gar Heilung scheinen weit entfernt zu sein.

(ebda)

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Sogar im bislang Vorbild gebenden Ausland lasse der genauere Blick wenig Hoffnungsvolles erkennen:

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Die Autorinnen belegen mit reichlich Material, dass die Rechnung für die meisten Paare nicht aufgeht: Mann macht Karriere, Frau macht Karriere, Kinder sind versorgt und glücklich. Nach der Analyse der Autorinnen kann das selbst bei schönstem Betreuungsangebot und auch in den oft als Vorbild genannten Familienparadiesen Frankreich und Schweden nicht klappen.

(ebda)

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siehe dazu z.B.:

Geschlechtsspezifische Lohnlücke auch in frauenpolitischen “Vorzeigestaaten” beharrlich hoch und stabil – in: HBF 10.03.14

HBF-Themen-Archiv “Familienpolitik im Ausland”, Stichworte “Frankreich” und “Schweden”

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Offenkundig sei die Alltagswirklichkeit komplexer als in der Experten/innen-Welt bedacht:

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(….) der Staat ein Interesse daran haben muss, sich dem Gleichstellungsthema von der rechnerischen Seite zu nähern: Jede Frau, deren Finanzlage verbessert werden kann, ist ein Risiko weniger für die öffentlichen Haushalte und eine Einnahmequelle mehr, jedes Kind einer solchen Frau hat bessere Startchancen. Aber manchmal wird eben nur noch gerechnet. Und nicht mehr auf die Wirklichkeit geschaut.

(ebda)

Deshalb orientiere sich etwa die Regierung selbst bei Ehen faktisch nicht mehr am Leitbild einer lebenslangen Verantwortungsgemeinschaft, sondern dränge mit seinen Regelungen auf die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Partner. Das senke vor allem das öffentliche Kostenrisiko im Scheidungsfall. Allerdings stehe diese Sicht im Gegensatz zur Selbstwahrnehmungen der Menschen:

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Das widerspricht aber fundamental dem Lebensgefühl vieler Paare. Sie betrachten sich nach wie vor als Lebensgemeinschaft und haben weder das Verlangen danach noch die Energie dafür, sowohl das Haushalts- als auch das Zeitbudget auf Cent und Minute genau aufzurechnen, um praktisch jederzeit für eine Trennung gerüstet zu sein. Sie wollen sich auf ihren Partner und ihre Partnerin verlassen – und der Statistik trotzen.

(ebda)

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Genauso lebensfremd sei die politische Vorstellung, Eltern würden stets akribisch auf eine partnerschaftliche Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit pochen:

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In Partnerschaften, in denen Kinder leben oder Alte zu pflegen sind, wird es das nämlich immer geben: Der eine oder andere steckt mal mehr, mal weniger in der Karriere zurück, um für die Menschen da zu sein, die ihm meistens noch näher sind als der Chef, die Kollegen und die Kunden.

(ebda)

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Bei alledem bleibt die eigentliche Kernfrage unbeantwortet: Liebe – zu den Kindern, dem Partner, pflegebedürftigen Eltern – braucht Zeit” (ebda):

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Fakt ist aber, dass die neue Flexibilität in der Arbeitswelt, die gerne mit dem Stempel familienfreundlich versehen wird, dergestalt in die Familien einsickert, dass jede Stunde des Tages produktiv (ebda)

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siehe dazu auch:

Berliner Zeitung Wirtschaft – 07.10.2014

Neue Zentrale in München

MICROSOFT VERZICHTET AUF FESTE ARBEITSPLÄTZE

In der neuen Zentrale von Microsoft werden keine festen Arbeitsplätze mehr eingerichtet. Man vertraue den Mitarbeitern und wolle ihnen selbst überlassen, wann und von wo aus sie arbeiten. (…)

Vor wenigen Wochen hatte Microsoft bereits eine Betriebsvereinbarung zum „Vertrauensarbeitsort“ geschlossen. Demnach ist es den Beschäftigten selbst überlassen, ob sie von unterwegs, von zu Hause oder vom Büro aus arbeiten. Auch feste Arbeitszeiten gibt es nicht. (dpa)

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Auf diesen unabdingbaren Zeitbedarf für die Familienarbeit hatte Helge Pross, eine der renommiertesten deutschen Soziologinnen, bereits vor 40 Jahren in Zuge einer Aufsehen erregenden Studie aufmerksam gemacht:

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DIE ZEIT, 1.8.1975 Nr. 32

Emanzipation

WONACH HAUSFRAUEN STREBEN

Von Rebellion keine Spur

Von Nina Grunenberg

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In der Kategorie „Hausfrauen-Report“ wurden bisher hauptsächlich Pornofilme gewürdigt. Schon deshalb sollte dankbar angezeigt werden, daß vor einiger Zeit der erste Hausfrauenreport erschienen ist, über den es lohnt zu reden. Es ist eine kommentierte, empirische Erhebung der Gießener Soziologin Helge Pross über nichterwerbstätige Hausfrauen:

„Die Wirklichkeit der Hausfrau. Die erste repräsentative Untersuchung über nichterwerbstätige Ehefrauen: Wie leben sie? Wie denken sie? Wie sehen sie sich selbst?“; Rowohlt Verlag, Reinbek 1975; 272 Seiten, 24,– DM.

(….) Abstand hielt sie aber auch gegenüber denjenigen, die das bestehende Familiensystem umstürzen wollen, um die Frau zu retten. „Klar ist in jedem Fall“, erklärt Helge Pross kurz und bündig, „daß Hausfrauenarbeit verrichtet werden muß. In keiner Gesellschaft, in keiner Epoche kommt man ohne sie aus“.

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Natürlich kann man diese Arbeit etwa in Kitas und Ganztagsschulen auslagern – letztlich sei dies dennoch keine befriedigende Antwort:

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Aufwand und Ertrag stehen in keinem akzeptablen Verhältnis mehr, – erst recht, wenn man berücksichtigt, dass zusätzlich zu einer Erwerbstätigkeit ja noch dem erhöhten kompensativen Zuwendungsbedarf ganztägig außerhäuslich betreuter Kinder nachzukommen ist.(1)

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(1) So schon 1976 Pross, Helge, Die Wirklichkeit der Hausfrau, Hamburg 1976, S. 143 ff. – aus: Der „Wiesbadener Entwurf“ einer familienpolitischen Strukturreform des Sozialstaates. Diskussionspapier von Jürgen Borchert, Wiesbaden 2002. Hessische Staatskanzlei.

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Darüberhinaus bringt die Auslagerung familiärer Tätigkeiten – ganz unabhängig von den dabei oft umgesetzten Sparvarianten etwa beim Krippen/Kita-Ausbau – stets einen substanziellen Qualitätsverlust mit sich, wie das Deutsche Jugendinstitut in München (DJI) bereits letztes Jahr in einer höchst bemerkenswerten Publikation erklärte (vgl. HBF 30.09.13).

Daß die heute durchgesetzten familien- und frauenpolitischen Konzepte genau daran kranken, bekommen immer mehr der politisch hofierten Leistungsträgerinnen/er zu spüren und machen ihrer Enttäuschung darüber auch höchst medienwirksam Luft:

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ZEIT Online 2. Oktober 2014 09:35 Uhr

Vereinbarkeit

WIESO FAMILIE UND BERUF NICHT ZU VEREINBAREN SIND

Wer Kinder hat und Karriere machen möchte, zahlt einen hohen Preis – besonders als Frau. Es ist beschönigend, von einer Vereinbarkeit zu sprechen. Denn die gibt es nicht.

Ein Gastbeitrag von Susanne Garsoffky und Britta Sembach

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HBF-Anmerkung:

Zum bemerkenswert-breiten Medienecho auf dieses Buch siehe die Google-Suchergebnisse für die beiden Autorinnen Susanne Garsoffky und Britta Sembach

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siehe dazu z.B. auch:

Elterngeld und Väter-Monate: Der familienpolitischen (Leyen-)Blase geht die Luft aus – Schmerzhafte Erfahrung für (Eltern-)Paare und Fortsetzung der demographischen Depression im Land (HBF 27.06.14)

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Für die AfD mit ihren tatsächlich fundamental anderen Positionen ist diese gesellschaftlich dominierende Gruppe der ewerbsorientierten Eltern derzeit keine Alternative:

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Tagesspiegel 06.10.2014 00:00 Uhr

Alternative für Deutschland (AfD)

„Arrest für Schüler, Zwangsarbeit für Eltern“

Familie, Schule, Wissenschaft: Der Soziologe Andreas Kemper erklärt im Interview, wo die AfD steht – und wie sie sich Einfluss verschafft.

Tagesspiegel: Herr Kemper, die AfD ist als Anti-Euro-Partei gestartet, inzwischen besetzt sie die Themen Zuwanderung und Kriminalität. In Ihrer Studie erforschen Sie die AfD nun als Familienpartei. Welche Rolle spielt das Thema für die AfD?

Andreas Kemper: Frauke Petry aus dem Bundesvorstand der AfD hat im sächsischen Wahlkampf deutlich gemacht, dass die AfD eine „Familienpartei“ sei. Und Familienpolitik, das dürfe man heute ja wieder sagen, sei „Bevölkerungspolitik“. Entsprechend hat sie eine Drei-Kinder-Familienpolitik gefordert, die sie mit einem Volksentscheid zur Abtreibungspolitik verbunden hat. Und auch in den Landeswahlprogrammen war die Familienpolitik der Schwerpunkt.

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weitere Einzelheiten bei HP-PLUS

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Dennoch gibt es zweifelsfrei ein großes Bedürfnis nach politischen Antworten jenseits des etablierten Mainstreams. Das legen nicht nur die sich häufenden publizistischen Hilferufe überforderter Eltern (s.o.) nahe. Auch die Süddeutsche Zeitung will mit ihrem gestrigen Beitrag ausdrücklich die Debatte zu einem neuen familienpolitischen Gesamtansatz anstoßen:

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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 07.10.2014

Die Ökonomie der Liebe

Warum wir einen neuen Generationenvertrag brauchen, unterstützt vom Staat und Unternehmen

Von Alexandra Borchardt

(…) Zu durchbrechen ist diese Entwicklung nur mit einem neuen Generationenvertrag. Und den können Staat und Unternehmen unterstützen. Die Politik muss Anreize dafür entwickeln, Menschen jenseits der Rentengrenze in gesellschaftliche Aufgaben einzubinden. (….)

In den Firmen wiederum muss es einen Kulturwandel geben. Mütter und Väter dürfen nicht für familienbedingte Auszeiten haftbar gemacht werden, späte Karrieren müssen möglich sein. (…)

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Zum Thema siehe auch:

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG (FAZ) 26.01.2005: Alles gleichzeitig geht nicht. Warum Eltern für Kinder dasein müssen. Von Kostas Petropulos

 

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