NACHWUCHSPOLITIK als Zukunftsthema:
Wird die AfD zur neuen Familienpartei?
– Expertenanhörung läßt aufhorchen
Der Bundesparteitag der AfD am Wochenende in Bremen diente nicht nur zur Korrektur der internen (Macht)Strukturen. Bemerkenswert war für Beobachter vor allem auch der Auftritt und die Debatten mit zwei hochrenommierten Experten, die sich der bundesdeutschen Nachwuchmisere widmeten (HPL). Ob deren Analysen und Lösungen zu einem Aufbruch der bundesdeutschen Familienpolitik beitragen können, wird sich allerdings noch herausstellen müssen.
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HBF-VOLLTEXT
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Der Bundesparteitag der AfD am Wochenende in Bremen diente nicht nur zur Korrektur der internen (Macht)Strukturen. Bemerkenswert war für Beobachter vor allem auch der Auftritt und die Debatten dem renommierten Bevölkerungsforscher Herwig Birg und dem Familienexperten Jürgen Borchert (Sozialrichter a.D.), die sich der bundesdeutschen Nachwuchmisere widmeten:
F.A.Z., Montag den 02.02.2015 Wirtschaft 15°DIE AFD WILL JETZT FAMILIENPARTEI SEINAuf dem Parteitag empfehlen Wirtschaftsfachleute Mütterquote, Familiensplitting und Extrarente für Eltern°jja. BREMEN, 1. Februar. Von außen betrachtet, hat sich der Parteitag der eurokritischen AfD vor allem mit eigenen Personalquerelen befasst. Doch die rund 1650 Mitglieder widmeten sich auch Stunden um Stunden den Vorträgen von Wirtschaftsfachleuten. So warnte der Demographieforscher HERWIG BIRG: „Je höher der Wohlstand eines Landes, desto geringer die Kinderzahl pro Frau.“ Unterlegt durch unzählige Schaubilder, zeigte der Bevölkerungswissenschaftler, dass der Anteil kinderloser Frauen in zwei Gruppen am niedrigsten ist – nämlich in Familien mit geringem Ausbildungsstand und unter Zuwanderern. Doch auch durch Zuwanderung, von der es in Deutschland mehr gebe als in jedem anderen EU-Land, werde sich das Problem der steigenden „Rentner- und Altenpflegequote“ nicht lösen lassen. „Nicht geborene Kinder können keine Eltern mehr werden“, rief Birg und sprach von einem „Kolonialismus auf demographische Art“. (….)Birg legte der AfD ein paar Rezepte ans Herz. (….)
JÜRGEN BORCHERT, bis vor kurzem Vorsitzender Richter am Landessozialgericht Hessen, hieb in eine ähnliche Kerbe. „Seit Jahrzehnten ist klar, dass wir die Sozialversicherungen an die Wand fahren“, sagte der Jurist. (…) Sein Vorschlag: Sozialversicherungsbeiträge werden durch einen Zuschlag auf die Einkommensteuer ersetzt.Als „wissenschaftlichen Müll von der übelsten Sorte“ geißelte er hingegen eine Prognos-Studie, der zufolge der Staat Familien schon jetzt mit 200 Milliarden Euro jährlich fördere. Vielmehr würden im Interesse der Wirtschaft Mütter zur Reservearmee für den Arbeitsmarkt flottgemacht, obwohl Deutschland „Weltmeister in Kinderlosigkeit“ sei. (…)°°Interview mit dem Sozialexperten JÜRGEN BORCHERT"Gefahr für die Demokratie"Von Norbert Pfeifer°Er wird als „Robin Hood der Familien“ und „soziales Gewissen Deutschlands“ bezeichnet: Jürgen Borchert, bis Ende Dezember Vorsitzender Richter am hessischen Landessozialgericht. Der Kämpfer für eine andere Sozialpolitik referiert heute auf dem Parteitag der AfD in Bremen. Norbert Pfeifer sprach mit ihm über seine Forderungen an die Politik und über seinen Auftritt in Bremen.Jürgen Borchert. (dpa)
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WK: Der Zustand des Sozialstaates ist desaströs und er schafft Probleme, vor denen er eigentlich schützen sollte – so lautet Ihr bitteres Urteil. Ist der Sozialstaat überhaupt noch zu reformieren, oder sollte er nicht gleich ganz abgeschafft werden?Jürgen Borchert: Der Sozialstaat ist für das Funktionieren der Demokratie unerlässlich, wir müssen ihn unbedingt reformieren. Die Richtung ist klar: Der Sozialstaat muss Verantwortung wieder erkennbar machen, die Verteilungsregeln müssen transparent sein, und die Umverteilung von unten nach oben ist zu beenden. In seiner aktuellen Verfassung ist der Sozialstaat tatsächlich eine Gefahr für die Demokratie.WK: Laut einer für die Bundesregierung erstellten Studie gibt es rund 150 familienpolitische Leistungen, 200 Milliarden Euro gibt der Staat im Jahr für Familien aus. Gibt es nur ein Verteilungsproblem?Jürgen Borchert: Bei dieser Rechnung muss man sich fragen, wie inkompetent man eigentlich sein muss, um so einen Unsinn zu erzählen. Man muss bei jeder Bilanz nach Soll und Haben fragen. Hier haben wir eine Rechnung, die nur die Habenseite berücksichtigt. Wissenschaftlicher Müll!(…)WK: Sie kennen die traditionellen Parteien und referieren nun am Sonnabend auf dem AfD-Parteitag in Bremen über eine familienfreundliche Reform der Sozialversicherung. In welcher Partei sehen Sie Ihre Vorstellungen am ehesten berücksichtigt?
Jürgen Borchert: Alle Altparteien haben in Sonntagsreden der Familienpolitik das Wort geredet, am Montag folgten dann die bitteren Pillen. Inwieweit eine neue Partei wie die AfD ein neues Denken für eine neue Zeit wagt, bleibt abzuwarten. Sie ist auf diesem Feld ein unbeschriebenes Blatt. Sie wäre gut beraten, wenn sie die eklatanten Schwächen der Altparteien bei der Familienpolitik nutzte, um wichtige Debatten anzustoßen. Wir müssen uns nur ansehen, was die Familienpolitik der letzten 50 Jahre geschaffen hat: das Desaster der doppelten Kinderarmut. Wir haben die Geburtenzahl von 1,35 Millionen im Jahre 1964 auf heute nur noch 660 000 halbiert. Und im selben Zeitraum hat sich der Anteil der Kinder, die von Sozialhilfe beziehungsweise Hartz IV leben, versechzehnfacht. Das ist eine Katastrophe.WK: Sie sind im wissenschaftlichen Beirat von attac, beraten Gewerkschaften und Sozialverbände. Ihre Kritik an der Sozialpolitik setzt meistens von links an. Warum referieren Sie ausgerechnet bei der rechtspopulistischen AfD?Jürgen Borchert: Ich habe in den letzten 35 Jahren überall geredet – von der Linken bis zur CSU. Ich sehe keinen Grund, warum man die AfD tabuisieren sollte. Wenn die AfD sich meine Ideen zu eigen machen sollte, umso besser – dann wachen die Altparteien auf! Die haben sich bisher ja sogar geweigert, Aufträge des Verfassungsgerichts umzusetzen. Das ist ein Umstand, der in der öffentlichen Debatte eine scharfe Waffe werden könnte – wenn es der AfD gelänge, den Bürgern die Zusammenhänge zu erklären. Das ist zugegebenermaßen nicht einfach, sondern verlangt harte Arbeit.°Zur Person: Jürgen Borchert, geboren 1949 in Gießen, ist einer der profiliertesten deutschen Sozialexperten und war bis Ende 2014 Vorsitzender Richter am hessischen Landessozialgericht. Er ist Architekt wichtiger Verfassungsbeschwerden. Das „Pflegeurteil“ 2001 führte etwa dazu, dass Kinderlose einen höheren Pflegebeitrag zahlen. 2008 lieferte er mit seinem Senat die Vorlage zur verfassungsrechtlichen Überprüfung der Hartz-IV-Regelsätze.
Ob die vorgetragenen Analysen und Lösungen von Herwig Birg und Jürgen Borchert tatsächlich zu einem Aufbruch der bundesdeutschen Familienpolitik beitragen können, wird sich allerdings noch herausstellen müssen.
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Zum Thema siehe auch: