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Das erfordert, für den Nachwuchs eine frühzeitige und zeitlich umfassende Betreuung in Kitas und Ganztagsschulen sicherzustellen. Gerade die Schulen sollen sich dabei von Lehranstalten zu Lebensräumen entwickeln, in dem Kinder und Jugendliche einen Großteil ihres Tages verbringen. Dort sollen sie zugleich auf ihre künftigen Aufgaben in der Altenrepublik Deutschland vorbereitet werden.
Diese „Vision“ wird allerdings von Erziehungswissenschaftlern deutlich kritisiert (HPL) und findet auch bei den Kids bislang wenig Zustimmung, wie die Neuauflage der größten Kinderstudie in Deutschland jetzt dokumentiert (HPL). Damit dürfte eine weitere Verschärfung des immer wieder auflammenden „Generationenkonflikts“ (vgl. z.B. HBF 2014 und HPL) programmiert sein.
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HBF-VOLLTEXT
Angesichts des „demografischen Wandels“ (= Schrumpf-Alterung der Bevölkerung) bleibt „die Fachkräftesicherung (…) eine der größten Herausforderungen für Deutschland insgesamt“, so Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) gestern bei der Vorstellung des neuen Fachkräfteberichts 2014:
Die Nachfrage nach Fachkräften wächst stetig. Gleichzeitig sinkt das Angebot an Fachkräften infolge des demografischen Wandels. Die Fachkräftesicherung bleibt daher ein Schlüsselthema der deutschen Wirtschaft und eine der größten Herausforderungen für Deutschland insgesamt.Derzeit liegt in Deutschland kein akuter flächendeckender Fachkräftemangel vor. Allerdings treten bereits heute in einzelnen Qualifikationen, Regionen und Branchen Arbeitskräfteengpässe auf.Die Zahl der Engpassberufe lag im Dezember 2014 bei 19 betroffenen Berufsgruppen, insbesondere Gesundheits- und Pflegeberufe sowie technische Berufe. Dazu zählen Berufe, die eine Berufsausbildung (z.B. Energietechniker oder Altenpfleger) oder eine Hochschulausbildung (z.B. Maschinenbauer oder Humanmediziner) erfordern.°(aus: Neuer Fortschrittsbericht zum Fachkräftekonzept. Pressemitteilung Bundesarbeitsministerium 11.02.15)
Neben mehr Einwanderern/innen sei die weitere Arbeitsmarktintegration der Frauen (mit Kindern = Mütter) die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre:
Die zentralen Aufgaben der Fachkräftesicherung für die kommenden Jahre liegen in der Integration der Zugewanderten in den Arbeitsmarkt und der Schaffung guter, gesunder sowie motivierender Arbeitsbedingungen. Zudem gilt es Frauen, die ihre Arbeitszeit ausweiten wollen, mit bedarfsgerechten Angeboten an Betreuungsplätzen und flexiblen Arbeitszeiten zu unterstützen.°(aus: ebda)
Das erfordert, für den Nachwuchs eine frühzeitige und zeitlich umfassende Betreuung in Kitas und Ganztagsschulen sicherzustellen. Gerade die Schulen sollen sich dabei von Lehranstalten zu Lebensräumen entwickeln, in dem Kinder und Jugendliche einen Großteil ihres Tages verbringen. Dort sollen sie zugleich auf ihre künftigen Aufgaben in der Altenrepublik Deutschland vorbereitet werden.
Diese „Vision“ wird allerdings von den Autoren des neuen LBS-Kinderbarometer 2014 Erziehungswissenschaftlern deutlich kritisiert:
Wo über Kinder jedoch im öffentlichen und politischen Diskurs gesprochen wird, werden sie keineswegs als Bevölkerungsgruppe mit eigenen Ansichten und Rechten gesehen. Hier werden ihre Interessen stellvertretend wahrgenommen. Und allzu oft werden Kinder aus einer Zukunftsperspektive betrachtet: Kinder werden benötigt, um in einer alternden Gesellschaft Arbeitsmärkte, soziale Sicherungssysteme und den allgemeinen Wohlstand zu erhalten. Ihre Potentiale werden beschworen und früh gefördert, was sich etwa in der frühpädagogischen Bildungseuphorie ausdrückt. Über die Interessen und die Zukunft von Kindern wird also von Erwachsenen entschieden, ohne sie heute zu hören und ernst zu nehmen.°Prof. Dr. Bernhard Kalicki Deutsches Jugendinstitut e.V. Leiter der Abteilung KinderKinder und Kinderbetreuung – in: LBS-Kinderbarometer 2014, Vorwort
Gerade die von Experten immer wieder vorgetragene Forderung nach einem Ausbau der verpflichtenden Ganztagsschulen (z.B. die Bertelsmann Stiftung [BST] zuletzt in: HBF 04.07.14, derzeitiger Nutzungsgrad: 14% – vgl: BST 03.07.14) findet auch bei den Kids bislang wenig Zustimmung, wie die Neuauflage der größten Kinderstudie in Deutschland (ca. 11.000 Befragte) jetzt dokumentiert. Schon heute empfindet nämlich die Hälfte aller Schüler/innen die Zeit in der Schule als “zu lang” und fast die genauso viele halten diese Zeit für “genau richtig”:
aus: LBS-Kinderbarometer 2014. S. 112
Daher wollen die Schüler mehrheitlich ihre Hausaufgaben lieber zuhause machen und nicht in der Schule, wie es sich viele “Bildungsmodernisierer” wünschen:
Betrachtet man den Wunschort für die Hausaufgaben nach Bun-
desländern, zeigt sich, dass Kinder in Bremen (51%), in Nord-
rhein-Westfalen (47%), Hamburg und Bayern (beide 45%) ihre
Hausaufgaben häufiger in der Schule erledigen wollen. Bei Kin-
dern aus den neuen Bundesländern Brandenburg, Thüringen,
Sachsen-Anhalt und Sachsen wird deutlich häufiger angegeben,
die Hausaufgaben zuhause erledigen zu wollen (vgl. Tabelle
10.2).°°Tabelle 10.2. – siehe HP-PLUS
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Dieses Ergebnis ist nicht überraschend, da die seit der Jahrtausendwende auf PISA-Tauglichkeit “reformierte” Schule von einer Mehrheit der Schüler nicht als Lebensort, sondern als erheblicher Streßfaktor erlebt wird:
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°Tübinger Online-Beratung für erschöpfte JugendlicheSie sind gut in der Schule, sportlich aktiv und engagieren sich in einem Ehrenamt. Und sie sind vollkommen erschöpft. Die Tübinger Online-Beratung Youth-Life-Line ist eine Anlaufstelle für ausgebrannte Jugendliche (siehe auch das Interview und den Kommentar auf Seite 2).Andrea Bachmann°Nina Schweigert betreut Jugendliche, die für Youth-Life-Line ehrenamtlich Gleichaltrige beraten, die in extremen Lebenskrisen stecken und suizidgefährdet sind. Die Pädagogin hat in den vergangenen Jahren eine deutliche Veränderung in der Lebensbewältigung von Jugendlichen bemerkt. „Gerade die, die besonders gut, ehrgeizig und engagiert sind, machen sich schnell Sorgen, den an sie gestellten Anforderungen nicht gewachsen zu sein.“Das gilt sowohl für die jugendlichen Berater(innen) als auch für deren Klienten. „Die Jugendlichen sind überzeugt, dass Erfolg im Leben sehr wichtig ist und dass man funktionieren muss, wenn man in diesem Leistungssystem bestehen will“, beobachtet Schweigert. Vor lauter Selbstoptimierung und Engagement in Schule, Hobby und Ehrenamt bleibt kaum noch Zeit für die persönliche Entwicklung. „Die Jugendlichen gestehen sich selber gar keine Backfischallüren mehr zu und meinen, sie müssten die Pubertät bereits hinter sich haben, obwohl sie noch gar nicht richtig drin sind“, stellt Schweigert fest.Auch das Schulsystem stößt im Umgang mit depressiven Jugendlichen an seine Grenzen. Denn es ist Teil einer Gesellschaft, die Wettbewerb und Selbstausbeutung propagiert.Nina Schweigert plädiert dafür, die persönliche Entwicklung junger Menschen wichtiger zu nehmen als ihren Erfolg: „In der Jugendphase sind extreme Entwicklungsaufgaben zu schaffen und es bleibt in unserem Bildungssystem dafür nur wenig Zeit und Raum.“www.youth-life-line.de°siehe dazu auch HP-PLUS°°Jugendliche suchen AnerkennungTobias Renner über die Zunahme depressiver Erkrankungen bei TeenagernTeenager, die so überfordert sind, dass sie an einer Depression erkranken – das ist ein Phänomen, mit dem man sich in der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiatrie immer häufiger auseinandersetzen muss, wie der Ärztliche Direktor, Prof. Dr. Tobias Renner, bestätigt.°(….)
Renner: Zunächst muss man sagen, dass der Begriff „Burnout“ in der psychiatrischen Diagnostik nicht verwendet wird. Die Symptome entsprechen denen einer Depression, die Ursache dieser Depression kann dann Erschöpfung sein. Und hier bemerken wir seit einiger Zeit eine deutliche Zunahme von Jugendlichen, die deswegen zu uns in die Kinder- und Jugendpsychiatrie kommen. (…)Tagblatt Anzeiger: Haben sich die Ansprüche, die an Jugendliche gestellt werden, tatsächlich geändert?Renner: Ja. Zum Beispiel war man noch vor zehn Jahren, was Schulnoten und die damit verbundenen Zukunftsaussichten anging, wesentlich entspannter. Heute stehen die Jugendlichen unter einem ungeheuren Erwartungsdruck und das sollte man auch ernst nehmen. (….)Tagblatt Anzeiger: Wie kann man Jugendliche vor dieser Überlastung schützen?Renner: Es ist wichtig, dass Jungen und Mädchen in der Pubertät ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln: Sie müssen eine Balance zwischen einer realistischen Selbsteinschätzung und den damit erreichbaren Zielen finden. Man kann sie unterstützen, indem man ihre Leistungen anerkennt, auch wenn sie nicht an der Spitze stehen. Der Weg sollte anerkannt werden, weniger das Ziel. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Selbstwirksamkeit von den messbaren Erfolgen entkoppelt wird: Ein Mensch kann im Leben etwas erreichen und Einfluss nehmen, auch ohne die Nummer 1 zu sein. Schon im Kindergarten sollten Kinder lernen, dass soziale Kompetenz wichtiger ist als Leistung.Fragen von Andrea Bachmann°
Offenkundig entspricht das auch dem intuitiven Bedürfnis des Nachwuchses, wie der Blick auf die Erwartungen an den späteren Beruf zeigt:
HBF-Anmerkung:Das Kinderbarometer liefert im übrigen auch einen bemerkenswerten Frühindikator für die (bislang) geschlechtsspezifische Berufswahl und den dadurch oft mitbedingten späteren Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen (Stichwort “Gender Pay Gap”) – vgl. HP-PLUS°
Insgesamt zeigen die Daten des LBS-KInderbarometers 2014, daß die Erwartungen von Kindern und Jugendlichen an die Schule und ihren späteren Beruf sich keineswegs mit den von der Politik und den tonangebenden Experten formulierten “Notwendigkeiten” zur Sicherung des alternden Sozialstaates decken. Im Gegenteil: Eine weitere Verschärfung des immer wieder auflammenden „Generationenkonflikts“ scheint vielmehr programmiert:
DIE ZEIT 7. Februar 2015, Nr. 7, S. 11°Aus der Krankenakte SPDDie Genossen richten sich künftig an der gestressten Generation ausPeter Dausend°(…) Gestresst ist die gestresste Generation vor allem deshalb, weil die SPD vor den Gestressten die Agenda-Verdrossenen als Kernzielgruppe feinjustiert hatte. Die Verdrossenen dürfen zwar jetzt mit 63 Jahren in Rente gehen, bleiben aber trotzdem verdrossen, weshalb die Gestressten, die jetzt für sie mitschuften müssen und noch mehr Stress haben, die SPD wählen sollen. (…)°vgl. dazu auch HBF 29.01.14
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Zum Thema siehe auch: