SWR2 Wissen: Aula, Sonntag 19.04.2015, 8:30-9:00 Uhr, Manuskript

Aula:

KONTROLLVERLUST

Gesellschaften zwischen Resignation und Radikalismus

Von Kostas Petropulos

Leiter des Heidelberger Büros für Familienfragen und soziale Sicherheit

 

Anmoderation

Unsere über Jahrzehnte wohlgeordnete Welt in Deutschland und Europa ist aus den Fugen geraten. Die europäische Banken-, Staatsschulden- und Eurokrise haben das bisherige Wachstumsmodell zerstört und damit den Kitt zwischen den Gesellschaften bröckeln lassen. Bei Wahlen steigt der Anteil der Wahlverweigerer und zugleich erringen ausländerfeindliche oder nationalistische Parteien gerade in Frankreich oder Osteuropa immer größere Erfolge. Im scheinbar krisenstabilen Deutschland ist es vor allem die AfD, die mit ihrer Forderung nach einer Abkehr von der bisherigen Finanzsolidarität und ihrer Anbiederung an Pegida einen politischen Aufstieg feiert. Kostas Petropulos, Leiter des Heidelberger Büros für Familienfragen und soziale Sicherheit, sieht noch weitere Auflösungserscheinungen, die zur Belastungsprobe der westlichen Demokratien werden könnten. In seinem Vortrag geht er den tieferen Ursachen dieser Entwicklung nach und macht sich Gedanken über die möglichen Antworten auf diese Krise.

 

Manuskript

Politische (Ver)Störung: Die Rückkehr von Nationalismus und Rechtspopulismus

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Am Abend des 9. Februar 2014 ging eine Schockwelle durch die Europäische Union: Mit einer hauchdünnen Mehrheit von 50,3 Prozent entscheiden sich die Schweizer in einer Volksabstimmung für die Initiative “Gegen Masseneinwanderung” der rechtskonservativen und EU-feindlichen Schweizerischen Volkspartei (SVP). Künftig soll es jährliche Höchstzahlen und Kontingente für die Einwanderung von Ausländern in die Schweiz geben. Hauptbetroffene sind vor allem EU-Bürger, die im Rahmen eines Freizügigkeitsabkommens seit 2005 in die Schweiz können, wenn sie einen Arbeitsplatz haben. Ab 2017 soll damit Schluss sein.

Dieses Votum sorgte bei der Europäischen Kommission in Brüssel genauso für diplomatisch verpackte Empörung wie bei der Bundesregierung. Gehört doch die EU-weite Freizügigkeit für Arbeitnehmer zum Herzstück der Europäischen Union. Umgehend drohte deshalb die EU-Kommission das Aus aller bilateralen Wirtschaftsverträge mit der Alpenrepublik.

Trotz dieser schnellen und entschiedenen Reaktion blieb in Europas Hauptstädten Fassungs-, ja Ratlosigkeit zurück: Wie kann sich im Zeitalter der Globalisierung, dem fortschreitenden Wegfall vom Grenzen für Waren und Menschen eine Nation gegen diesen Trend stemmen, obwohl ihre Wirtschaft davon in ganz besonderer Weise profitiert? Beispielsweise ist die EU mit einem Anteil von rund 60 Prozent der mit Abstand größte Handelspartner der Schweiz.

Dass dies schon längst keine akademische Frage mehr ist, sondern länderübergreifend bei den Eliten in Politik, Wirtschaft, Verbänden und Medien für heftige Unruhe sorgt, zeigt eine ganz Reihe weiterer Phänomene. Sie sollen deshalb im Rahmen dieses Vortrages nicht nur benannt, sondern ganz nüchtern analysiert werden. Ich werde mich dabei auf die maßgeblichen Ursachen dieser verstörenden Entwicklungen konzentrieren und mögliche Auswege nur kurz andeuten, da dies Stoff für einen vollständig neuen Vortrag wäre.

In die Reihe, der mit besonders großer Besorgnis aufgenommenen Ereignisse der letzten Monate, gehört nicht nur das Schweizer Einwanderungsvotum. So stimmten im September des letzten Jahres die Schotten allen Ernstes darüber ab, ob sie nach mehr als drei Jahrhunderten das Vereinigte Königreich verlassen und als eigenständiger Staat weiterbestehen sollten. Am Ende entschieden sich dann doch 55 Prozent der Schotten für den Verbleib im Königreich.

Die Erleichterung darüber war nicht nur in London sondern genauso in Brüssel sehr groß. Dort fürchtete man, dass die Abspaltung Schottlands in ganz Europa Nachahmer finden könnte – etwa in Spanien, wo die Katalanen bereits seit Jahren in die Unabhängigkeit drängen genauso wie im Baskenland, in Flandern oder in Südtirol.

„Region vor Nation!“ ist nicht das einzige Phänomen, das Europas weltläufigen Eliten Kopfzerbrechen bereitet. Hinzu kommt der wachsende Wunsch in Teilen der Bevölkerung nach einer stärkeren Abschottung des eigenen Landes. So ist in allen europäischen Staaten ein massives und damit gefährliches Anwachsen rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien zu beobachten – ob in Frankreich, wo Jean-Marie Le Pen mit ihrer Front National die etablierten Parteien vor sich hertreibt oder im toleranten Schweden, wo die fremdenfeindlichen Schwedendemokraten bei den letzten Wahlen als drittstärkste Kraft ins Parlament eingezogen sind.

In Deutschland wiederum sorgt die Euro-kritische Alternative für Deutschland (AfD) mit ihrem kometenhaften Aufstieg seit der Europawahl im Mai letzten Jahres für Unruhe in der bundesdeutschen Parteienlandschaft. Noch wissen Union und SPD nicht genau, wie sie mit den politischen Neulingen und vor allem deren Wählerschaft umgehen sollen.

Wie groß hier die Verunsicherung ist, zeigte sich um die Jahreswende bei der Reaktion auf die sogenannte PEGIDA-Bewegung, die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Mit ihren dezidiert islam- und medienfeindlichen Parolen, die sie vor allem in Dresden auf Schweigemärschen präsentierten, stießen sie zunächst auf strikte Ablehnung bei den Parteien und den Medien. Nachdem Woche für Woche die Zahl der Demonstranten rasch wuchs, kamen jedoch die ersten Gesprächsangebote – und zwar nicht nur von der Union. Zur Überraschung der Öffentlichkeit und der eigenen Partei traf sich SPD-Chef Sigmar Gabriel Ende Januar mit Pegida-Anhängern zum Gespräch in Dresden. Dabei hatten die Genossen zuvor wochenlang die sächsischen Islamkritiker als offen ausländerfeindlich attackiert.

Was den SPD-Chef und die Unions-Spitze beunruhigte, war vor allem eine Tatsache: Hinter den radikalen Wortführern der Pegida-Bewegung versammelten sich große Teile der Mittelschicht – gutausgebildet, erwerbstätig und frustriert! Frustriert über die Politik der Parteien, von denen sie sich schon längst nicht mehr repräsentiert fühlen; wütend auf die Medien, die sie pauschal als „Lügenpresse“ beschimpften und sich ihr deshalb komplett verweigerten.

Selbst wenn die Pegida-Bewegung zum Glück nicht auf ganz Deutschland übergriffen hat und sich letztlich auf Sachsen beschränkte, kann die Politik nicht aufatmen. In Meinungsumfragen hatten die „Wutbürger“ nämlich die Mehrheiten hinter sich. So wünschten sich noch im Januar 52 Prozent der Bevölkerung, dass die Politik auf Pegida zugehen und das Gespräch suchen sollte. Und 64 Prozent waren sogar der Meinung, der Bürger habe kaum Möglichkeiten, auf die Politik Einfluss zu nehmen.

Angesichts dieser weitverbreiteten Stimmung in der Bevölkerung warnte deshalb SPD-Chef Gabriel davor, einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen. Der Treibstoff für den Protest sei immer noch da: „Wut, Angst, Verunsicherung, mitunter auch Ausländerhass.“

Angst vor dem Absturz

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Wut, Angst und Verunsicherung als prägendes Gefühl in Teilen der ostdeutschen Gesellschaft? – Das klingt plausibel. Schließlich haben die Menschen dort in den Nachwendejahren dramatische Umbrüche erlebt, die tiefe Spuren im kollektiven wie persönlichen Bewusstsein hinterlassen haben. Aber Angst und Verunsicherung als gesamtdeutsches Phänomen, das die Politik wirklich beunruhigen sollte?

Auf den ersten Blick gibt es dafür keinen Grund: Die seit 2009 grassierende europäische Staatsschulden- und Wachstumskrise hat Deutschland derart gut bewältigt, dass sein Wirtschafts- und Arbeitsmarkt-Konzept zum Modell für alle Euro-Staaten aufgestiegen ist. Die Zahl der Erwerbstätigen im Land erreicht Rekordstände, die es zuletzt Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts gegeben hat. Steuern- und Sozialbeiträge sprudeln derart kräftig, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble 2014 erstmals seit 40 Jahren wieder einen schuldenfreien Haushalt vorweisen konnte. Das Geldvermögen der Deutschen hat inzwischen die 5 Billionen Euro-Grenze überschritten. Und fast Dreiviertel der Bevölkerung schätzen ihre persönliche Lage als gut oder sehr gut ein.

Dennoch sind all diese Zahlen kein Anlass zur Beruhigung. Aus Sicht der Bürger und Bürgerinnen stehen sie nämlich auf einem brüchigen Fundament. So fürchten fast 70 Prozent der Deutschen die Wiederholung der Wirtschafts- und Finanzkrise in der EU. Mit Schrecken dürften sie sich dabei an das Jahr 2009 erinnern, als die heimische Wirtschaft im Zuge der Weltwirtschaftskrise um 5 Prozent abstürzte. Das übertraf sogar die Wirkung des Ölpreisschocks im Jahr 1973.

Noch beängstigender ist das mittlerweile für große Teile der Mittelschicht denkbar gewordene hohe persönliche Absturzrisiko – selbst wenn man dabei nicht im gefürchteten Hartz-IV-System landet. Beispielhaft dafür steht etwa der vielbeachtete Tatsachenroman „Möbelhaus“ von Robert Kisch. Darin berichtet der einst preisgekrönte Journalist unter einem Pseudonym von seinem beruflichen Abstieg aus der Welt der gutbezahlten Festangestellten in sein neues Leben als Möbelverkäufer. Eine Welt, in der seine Kollegen durch den täglichen Kampf um Provisionen zu seinen Feinden werden; eine Welt, in der es weder Solidarität noch Mitgefühl gibt, weil jeder nur überlebt, wenn der andere untergeht.

Solche Schicksale machen Angst. Was früher nur das Problem von unqualifizierten Randgruppen war, droht heute praktisch jedem – selbst wenn er oder sie bestens qualifiziert ist. Und das nicht nur in Deutschland, sondern genauso in allen westlichen Industriestaaten.

Reaktion auf Kontrollverlust

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Die bedrohte Mitte reagiert darauf einerseits mit politischer Resignation. Das schlägt sich in immer neuen Rekorden bei der Zahl der Nichtwähler nieder. Parallel dazu beschleunigt sich der Rückzug ins Private: Job, Familie, Freunde und Konsum werden wieder die Grenzen des persönlichen Horizonts.

Bleibt die verunsicherte Mitte jedoch weiterhin politisch, dann mit einer wachsenden Radikalisierung ihrer Urteile und Wahlentscheidungen. Gestärkt werden dabei Parteien, die den Rückzug auf den Nationalstaat und traditionelle Werte propagieren.

Dieses Verhalten ist – nüchtern betrachtet – die Antwort auf eine Überforderung durch die neuen Zwänge unserer hochkomplexen Wirtschaft, Arbeitswelt und Gesellschaft. Im Kern bedeuten sie nämlich für jeden Einzelnen den beschleunigten Verlust an Berechenbarkeit, persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten und damit letztlich Kontrolle über das eigene Leben.

Politisch organisierter Abbau von Grenzen

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Mit dem Wegfall des jahrzehntelang dominierenden Ost-West-Konflikts ab Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts setzte ein gewaltiger Globalisierungsschub ein. Grenzen für Geld, Waren und Menschen wurden nicht nur in Europa, sondern weltweit eingerissen. Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien öffneten sich dem freien Handel und stiegen so zu hartnäckigen Konkurrenten der einst unangefochtenen westlichen Industriestaaten auf.

Riesige Wirtschafts- und Finanzkonzerne entstanden, die über Ländergrenzen hinweg weltweit abgestimmt agieren und über Etats verfügen, die den Haushalt vieler Nationalstaaten übertreffen.

Regierungen sahen ihre Aufgabe vor allem darin, nationale Schutzregeln für die heimische Wirtschaft und den Arbeitsmarkt abzubauen. Zugleich sollte dabei die internationale Wettbewerbsfähigkeit vor allem durch den Abbau des kostenträchtigen und beschützenden Sozialstaates erhöht werden.

So ist am Ende der Einzelne gezwungen, sich mit seinen Qualifikationen und seinem Arbeitseinsatz den Regeln des europäischen, ja sogar des globalen Wettbewerbs zu beugen – oder sich von seinem gewohnten Lebensstandard zu verabschieden.

Überforderung des Einzelnen und der Gesellschaft

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Allerdings steigt der persönliche Preis für die bloße Behauptung oder gar den Erfolg im Beruf immer weiter an: Nach einer aktuellen DAK-Studie hat sich in den letzten 10 Jahren die Zahl der Fehltage durch Depressionen um 178 Prozent erhöht. Beruflicher Stress ist dafür eine entscheidende Ursache.

Gerade in Deutschland hat die Herausbildung dieses besonders flexiblen und effizienten Arbeitsmarktes zudem eine bevölkerungspolitische Dimension. Schon seit einigen Jahren beschreiben Soziologen das Phänomen der “gehetzten Generation“. Gemeint ist die Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen, die Berufseinstieg, Partnerfindung, Familiengründung, Kindererziehung und Karriere innerhalb kürzester Zeit unter einen Hut bringen sollen. Diese sogenannte „Rushhour des Lebens“ klingt nicht nur nach viel Stress, sondern ist es auch. Das veranlasst immer mehr beruflich erfolgreiche Mütter und Väter ihrer Überforderung in vielbeachteten Büchern Luft zu machen – oder als Frauen und Männer gleich ganz auf Kinder zu verzichten.

Das Ergebnis dieser Entwicklung zeigt sich besonders deutlich im Vergleich mit Frankreich: Dort gebären die Mütter im Durchschnitt 2,0 Kinder pro Frau, in Deutschland sind es nur 1,4. Seit 2007 ist die Geburtenrate in Frankreich sogar noch leicht angestiegen. Auffällig dabei: Die Französinnen trauen sich ihre Kinder in jüngerem Alter zu bekommen als hierzulande. Bis zum 35. Lebensjahr haben Französinnen bereits 1,6 Kinder, deutsche jedoch erst 1 Kind. Mit steigendem Alter erhöht sich jedoch die Wahrscheinlichkeit, am Ende weniger Kinder bekommen zu können, als ursprünglich geplant. Demnach könnte die sowieso schon niedrige Geburtenrate in unserem weltmarkt-optimierten Land künftig also noch weiter absinken.

Mit überraschender Offenheit brachte SPD-Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig die Rolle des Arbeitsmarktes bei dieser Entwicklung auf den Punkt: „Befristete Jobs wirken wie die Anti-Baby-Pille“!

Das zieht eine Schrumpf-Alterung der Bevölkerung nach sich, die inzwischen unausweichlich programmiert ist.

Politische Antwort verschärft Kontrollverlust: Einwanderung

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Die politische Reaktion auf diese absehbare Entwicklung verschärft wiederum bei den Bürgern das um sich greifende Gefühl des Kontrollverlustes über das eigene Leben.

Als Konsequenz des scheinbar naturwüchsigen „demographischen Wandels“ klagt nämlich die Wirtschaft immer heftiger über einen Fachkräftemangel und ruft nach einer massiven Einwanderung tüchtiger junger Menschen aus dem Ausland.

Bei der Politik findet sie dafür ein offenes Ohr. Bereits vor genau 3 Jahren, im April 2012, hat die Bundesregierung ihre „Demographiestrategie“ beschlossen. Ein zentraler Baustein ist darin die „Fachkräftesicherung“ durch eine offensive Einwanderungspolitik. Hier gibt allerdings schon seit 2010 handfeste Erfolge. Kamen damals unterm Strich noch 128.000 Menschen ins Land, so ist ihre Zahl inzwischen auf 470.000 im letzten Jahr angestiegen. Damit ist Deutschland nach den USA zum zweitwichtigsten Einwanderungsland der Welt avanciert. Da der Trend ungebrochen ist, dürfte es bis Ende des Jahres insgesamt mehr als 2 Millionen neue Zuwanderer geben; bis 2020 könnten es sogar deutlich über 4 Millionen werden.

Diese Menschen verteilen sich nicht gleichmäßig über das ganze Land oder ziehen in die wachsende Zahl entvölkerter Landstriche Ost- oder Norddeutschlands. Stattdessen strömen die Migranten bevorzugt in die großen Metropolen wie Berlin, Frankfurt, Stuttgart oder München. Dort sorgt ihre Konkurrenz mit den Einheimischen auf dem Arbeitsmarkt nicht nur für anhaltenden Druck auf die Löhne – zum Beispiel im boomenden Bereich der Alten- und Krankenpflege. Auch der Kampf um bezahlbaren Wohnraum in den Ballungszentren, den normalverdienende Familien immer öfter verlieren, verschärft sich durch die Neuzugänge aus dem Ausland weiter.

Vor allem: Es wächst die kulturelle Vielfalt, mit der alle – Deutsche wie Einwanderer – umgehen lernen müssen.

Im Alltag ist das jedoch ausgesprochen mühsam, wie gerade die Verunsicherung, ja Angst vor dem Islam dokumentiert. Laut dem Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung ist diese Angst trotz vieler öffentlicher Debatten sogar noch gewachsen. Dabei fühlen sich 40 Prozent der Bundesbürger durch Muslime wie Fremde im eigenen Land.

Und selbst die direkte Nachbarschaft dämpft diese Vorbehalte weitaus weniger als erhofft. In Nordrhein-Westfalen, wo ein Drittel der Muslime wohnt, sehen sich laut Religionsmonitor immer noch 46 Prozent der Bürger durch den Islam bedroht.

Das ist politisch brisant. Die bisherigen Einwanderer kommen zu rund drei Viertel aus dem europäischen Raum. Hier herrscht aber fast überall Bevölkerungsschwund – übrigens genauso wie in Teilen Asiens. Langfristig wird daher die Zuwanderung aus Nordafrika und dem Nahen Osten kommen müssen. Regionen, in denen der Islam dominiert.

Die Bundestagsparteien sind sich praktisch darin einig, keine Volksabstimmung über die gewählte Einwanderungsstrategie anzustreben. Die Bürger werden sich deshalb in der weiterentwickelten Einwanderungsgesellschaft einrichten müssen. Das Gefühl, durch andere in seinem Leben bestimmt zu werden, dürfte sich damit wohl noch weiter vertiefen.

Natürlich muß Deutschland deshalb nicht seinen Status als Einwanderungsland aufgeben, von dem Einheimische genauso wie Zugezogene profitieren können. Aber eine Politik, die kein Konzept dafür hat, wie Einwanderung und Integration gelingen könnten, schürt bei vielen Bürgern Ängste und Fremdenhass.

Grenzen der Einwanderung?

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Das ist keine typisch deutsche Rückständigkeit, wie in links-liberalen Kreisen beklagt wird, sondern weltweit zu beobachten. Kronzeuge dafür ist der international renommierte, britische Ökonom und ehemalige Forschungsdirektor der Weltbank Paul Collier. In seinem Buch “Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen” analysiert er nüchtern die Vorteile und Grenzen der modernen Einwanderungspolitik. Dabei erteilt er der Euphorie über eine multikulturelle Gesellschaft eine klare Absage.

Diversität bringe zwar durchaus Abwechslung und Stimulation in eine Gesellschaft, kippe aber ab einem bestimmten Punkt ins Negative. So sinke bei hoher Einwanderung die Bereitschaft der Einheimischen durch Umverteilung den Bedürftigen zu helfen. Deshalb begnüge sich etwa das klassische Einwanderungsland USA mit einem mageren Sozialstaat, während in den homogeneren skandinavischen Ländern die Finanzierung des teuren und ausgebauten Wohlfahrtsstaates Konsens sei.

Hohe Einwanderung schwäche zudem die Kooperationsfähigkeit, auf die unsere hochkomplexen Industriegesellschaften besonders angewiesen sind – sowohl für wirtschaftliche als auch für soziale Erfolge. Diese Fähigkeit basiere auf Vertrauen in den anderen und hänge von der kulturellen Nähe ab. Sie bestimmt das Gefühl und den Sinn für das unhinterfragt Verbindende zwischen Menschen. Genau das entfalte sich am besten in Gesellschaften mit einer nationalen Identität.

Anthropologische Notwendigkeit von Grenzen

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Identitäten sind damit für Gesellschaften genauso unverzichtbar wie auf der persönlichen Ebene für jeden Einzelnen. Sie bedürfen der Räume, die für die Mitglieder einer Gesellschaft überschau- und gestaltbar sind und gemeinsame Erfahrungsmöglichkeiten bieten. Nur das vermittelt dem Einzelnen wie der Gesellschaft das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Sicherheit. Demnach brauchen diese Räume Grenzen.

Grenzen sind damit eine existenzielle Entwicklungsnotwendigkeit. Sie werden nur dann zum Problem, wenn sie zur Abschottung nach Außen führen – also die Offenheit für neue Einflüsse – seien es nun Ideen oder Menschen – blockieren.

Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die politisch entfesselte Globalisierung mit dem Abbau von Grenzen für die Wirtschaft, für Geldströme, für Arbeitsmärkte und für Menschen bei immer mehr Bürgern Ängste auslösen. Sie fühlen sich von einer Flut an mächtigen Entwicklungen überrollt, die sie vollkommen überfordern und reagieren darauf immer häufiger mit Resignation oder Radikalität.

Rückkehr in die Kleinräumigkeit….

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Radikalität muss dabei allerdings nicht zwangsläufig zum Rückfall in einen scharfen Nationalismus führen, der Fremde nur noch als Bedrohung wahrnimmt.

Die überbordende Globalisierung mit ihren ökologischen und sozialen Folgeschäden fördert nämlich genauso die Suche nach neuen Formen des Wirtschaftens, Arbeitens und Zusammenlebens. Am bekanntesten ist die Bewegung der sogenannten Transition Towns. 2006 wurde sie vom britischen Dozenten und Umweltschützer Robert Hopkins gegründet. Seither hat sie sich nicht nur in Großbritannien rasch verbreitet, sondern hat auch hierzulande in mehr als 100 Städten engagierte Anhänger gefunden. Anders als bei alternativen oder ökologischen Landkommunen sucht die Transition-Bewegung nach praktikablen Umgestaltungsmöglichkeiten von Wirtschaft und Gesellschaft in den städtischen Lebensräumen. Im Kern sollen die Menschen die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen, indem sie sich soweit wie möglich von den globalen Warenströmen abkoppeln und sich stattdessen aus ihrem Nahfeld bedienen. Dabei könne sich der Einzelne nicht nur viel stärker mit seinen Fähigkeiten einbringen, sondern soziale Netzwerke wie etwa Nachbarschaften oder Stadteilinitiativen würden auf diese Weise ebenfalls gestärkt.

In diesen durch persönliche Nähe geprägten Lebensräumen könnte ebenfalls die Aufnahme und Integration von Einwanderern weitaus besser als bisher gelingen. Die Begegnungsmöglichkeiten zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen würden sich dann in der Hauptsache nicht nur auf den Arbeitsplatz beschränken. Auch größere Teile des Alltagslebens müßten gemeinsam bewältigt werden, da es ja in den Transition Towns viel stärker als heute auf das Engagement jedes Einzelnen ankommt. Das gegenseitige Kennen- und Verstehenlernen kann da nicht ausbleiben und dürfte so diese Gemeinschaft mit neuen Ideen und Handlungsmodellen bereichern.

…oder beschleunigte Globalisierung?

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Tatsächlich steht eine Rückkehr zu kleineren und überschaubaren Einheiten bei der Politik leider nicht auf der Agenda. Im Gegenteil. Die bestehenden „Sachzwänge“ würden sogar die Beschleunigung der heute bestimmenden Trends erfordern. Globalisierung, Europäisierung und Einwanderung müssten noch weiter vorangetrieben werden, wenn das Versorgungsniveau und der Lebensstandard in den Industriestaaten gehalten werden sollen. Deshalb kämpfen zum Beispiel die schwarz-rote Bundesregierung zusammen mit der US-Administration unter Präsident Barack Obama mit aller Kraft für das neue transatlantische Handelsabkommen TTIP. Damit sollen bestehende Schutz-Zölle abgebaut und gleichwertige Standards in der EU und der USA geschaffen werden. „Mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze!“ lautet das Versprechen. Aber das wird logischerweise nur bei erhöhter Wettbewerbsfähigkeit funktionieren – im Klartext: Noch höheren Leistungen der Beschäftigten als bisher!

Angst als neuer Kitt

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Kein Wunder, dass die Regierungen diesseits und jenseits des Atlantiks nicht nur mit den vermeintlichen Vorzügen des neuen Freihandelsabkommens bei ihrer Bevölkerung werben. Als höchst wirkungsvolle Hilfe könnte sich hier ein altbewährtes Instrument erweisen: Die Angst! – Nicht nur die Angst vor einem China, das den USA und Europa die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt immer aggressiver streitig macht. Seit dem Frühjahr letzten Jahres haben West-Europa und die USA zudem wieder einen gemeinsamen Feind, der sie zusammenschweißt: Russland!

Der Versuch der angeschlagenen Weltmacht im Osten unter Präsident Wladimir Putin mit aller Gewalt ihre alte Einflußsphäre in der Ukraine zu wahren, stößt mittlerweile auf die mehrheitliche Ablehnung der Bevölkerung im Westen. Das ist Wasser auf die Mühlen der Befürworter des neuen Freihandelsabkommens. Bereits im März 2014, kurz nach Ausbruch der Krise in Kiew, kommentierte der US-amerikanische Handelsbeauftragte Michael Froman den Konflikt mit den Worten. „Aus strategischer und wirtschaftlicher Sicht könnte das Argument für ein Freihandelsabkommen nicht stärker sein.“

Also Angst als neuer Kitt für die Gesellschaften des Westens? Angst als Aufputschmittel gegen die von der Globalisierung erschöpfte und von Zweifeln am bisherigen Wohlstandsmodell geplagte Bevölkerung?

Der Blick ins Ausland zeigt, dass diese Rechnung immer noch aufgehen kann. Zum Beispiel in den USA. Nach dem islamistischen Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 hat die US-Regierung ein System zur Totalüberwachung ihrer Bürger aufgebaut, das uns in Europa die Haare zu Berge stehen läßt. In der verängstigten US-Bevölkerung wird das jedoch mehrheitlich befürwortet.

Diese Bereitschaft, den Abbau persönlicher Freiheitsrechte in Kauf zu nehmen, um die öffentliche Sicherheit zu stärken, ist letztlich nur der verzweifelte Versuch, das Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen.

Politik steckt ebenfalls in Komplexitätsfalle

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Abgesehen davon, dass dieser Ansatz sogar bei zurückhaltender Umsetzung die demokratischen Freiheitsrechte des Einzelnen einschränken muss, stellt sich noch eine ganz andere Frage: Ist die Politik überhaupt in der Lage, die von ihr aufgebauten und ermöglichten Verhältnisse tatsächlich noch zu beherrschen? Nur dann kann sie ja ihren Bürgern das Gefühl der geforderten Sicherheit vermitteln.

Schauen wir etwa auf die global entstandenen Strukturen der Wirtschafts- und Finanzmärkte, die das Leben von Milliarden Menschen bestimmen. Hier verfestigt sich der Eindruck, dass die Regierungen zunehmend selbst in der Komplexitätsfalle stecken.

So erklärt Bundeskanzlerin Angela Merkel, bei ihrer Politik prinzipiell nur noch „auf Sicht zu fahren“. Verständlich, wenn man sich daran erinnert, dass praktisch alle tonangebenden Experten und internationalen Institutionen den Ausbruch der historisch tiefen, globalen Banken- und Finanzmarktkrise nicht haben kommen sehen.

Dementsprechend hilflos ist die Politik. Das zeigte sich schlaglichtartig am Beginn der Krise im Herbst 2008. Drei Wochen nach dem spektakulären Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers gaben Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr damaliger Finanzminister Peer Steinbrück erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Garantie der Regierung für die Sicherheit aller privaten Spareinlagen. Damit verhinderten sie, dass die geschockten Bürger die Banken stürmten, um ihre Konten zu leeren. 2011 räumte Peer Steinbrück dann allerdings ein, dieses Versprechen sei ohne jede rechtliche Grundlage, also nur ein Bluff zur Beruhigung der Bürger gewesen.

Ob es seither besser geworden ist, darf bezweifelt werden. Das zeigte sich beispielsweise Anfang des Jahres beim Weltwirtschaftsforum im Schweizer Davos. Auf diesem Treffen der globalen Eliten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gab es vor allem eins zu beobachten: Allgemeine Ratlosigkeit gegenüber den nicht mehr voraussehbaren Entwicklungen, die sie selbst auf den Weg gebracht haben. – Die starke Aufwertung des Dollars, der plötzliche Absturz des Ölpreises oder die Gefahr sinkender Preise in der Eurozone – all das hätte sich vor einem Jahr niemand der Teilnehmer vorstellen können. Ganz zu schweigen von den weltweit eskalierenden Konflikten und Kriegen, die wirtschaftliche und finanzpolitische Planungen jederzeit zu Makulatur machen können.

Am Ende teilte die versammelte Elite im Schweizer Davos nur noch den geradezu religiösen Glauben, mehr Wirtschaftswachstum sei die Lösung aller Probleme.

Hybris beenden!

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Dieses Welt- und Gesellschaftsbild charakterisiert der Bonner Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel in seinem gleichnamigen Buch als Hybris der derzeitigen Kultur des Westens. Sie sie eine Ideologie…

„….die in ihrem unablässigen Streben nach Entgrenzung unvermeidlich zerstörerisch wirkt. Menschlichem Handeln sind Grenzen gesetzt. Menschengemäße Zielsetzungen tragen dem Rechnung. Grenzen nicht anzuerkennen ist Selbstüberhöhung und Größenwahn – ist Hybris.“

 

Die notwendigen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis verlangen zweifellos ein fundamentales Umdenken. Seit 1972, als der Club of Rome seinen weltweit beachteten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte, ist das allerdings immer wieder gefordert worden – offenkundig erfolglos. Das nährt eine Befürchtung: Gesellschaften lassen sich genauso wie die Mehrheit der Menschen in ihrem persönlichen Leben meist nicht durch bessere Argumente überzeugen – sondern schlicht nur durch erlittene Katastrophen. Indes gibt es Katastrophen, die man sich ganz einfach nicht leisten kann.