Alterung läßt Krankheitskosten nicht explodieren!
– Kassenstudie schürt billige Illusionen
HBF-Infodienst, Tübingen, 30. November 2011, Kurzfassung:
Die Alterung der Bevölkerung wird die Kosten im Gesundheitswesen nicht überdurchschnittlich stark steigen lassen, so die Botschaft des neuesten AOK-Gesundheitsreports (HPL). Das steht im diametralen Gegensatz zur bisherigen, fest etablierten Auffassung (vgl. z.B. Expertenbericht der Bundesregierung 2011) und zur Kundenanwerbepraxis der Krankenkassen (vgl. z.B. die Pleite der City BKK – in: HBF 2011). Tatsächlich ruht die überraschende AOK-Erkenntnis auf einer höchst fragwürdigen Argumentationsbasis (HPL) und lenkt damit den Blick auf eine zentrale Schlußfolgerung der Kassenvertreter: Der demografische Wandel darf nicht länger als Argument für die ständige Forderung nach mehr Geld und neuen Leistungen herhalten (HPL).
Die Alterung der Bevölkerung wird die Kosten im Gesundheitswesen nicht überdurchschnittlich stark steigen lassen, so die Botschaft des neuesten AOK-Gesundheitsreports:
AOK Bundesverband Pressemitteilung 28.11.11
VERSORGUNGS-REPORT 2012: Schwerpunktthema “Gesundheit im Alter”
Medizin und Pflege für eine alternde Gesellschaft
°
Die Lebenserwartung steigt. Und mit ihr die Zahl altersbedingter Krankheiten. So wird sich bis 2050 die Zahl der Demenzkranken in Deutschland auf bis zu drei Millionen erhöhen. Dennoch wird der demografische Wandel die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) weit weniger belasten als vielfach angenommen. Das geht aus dem am Montag (28. November) veröffentlichten Versorgungs-Report 2012 hervor. Danach steigen die Gesundheitsausgaben aufgrund des zunehmenden Anteils Älterer an der Bevölkerung bis 2050 um 19 Prozent (0,4 Prozent pro Jahr).(….)
°
Keine “Kostenexplosion”
°
Nach Berechnungen des Gesundheitsökonomen Prof. Stefan Felder von der Universität Basel steigen die GKV-Ausgaben aufgrund des zunehmenden Anteils Älterer an der Bevölkerung bis 2050 um bis zu 20 Prozent. Das entspricht einem Ausgabenplus von 0,4 Prozent pro Jahr. Zum Vergleich: Zwischen 2005 und 2009 sind die Ausgaben der GKV im Jahresmittel um 3,7 Prozent gestiegen.
Das steht im diametralen Gegensatz zur bisherigen, fest etablierten Auffassung wie sie etwa der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Demographiegutachten vom Mai bekräftigt hat. Es widerspricht auch der Kundenanwerbepraxis der Krankenkassen:
Gemäß der hier vorgestellten Ausgabenprojektion, deren Basisszenario unter anderem ein konstantes Leistungsspektrum, konstante altersspezifische Morbiditätsrisiken und eine lohnorientierte Fortschreibung der Ausgaben unterstellt, nehmen die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung real auf 309 Mrd Euro im Jahr 2060 zu, was einem Anstieg gegenüber dem Jahr 2010 von 95 vH entspricht
(aus: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Herausforderungen des demografischen Wandels. Expertise im Auftrag der Bundesregierung. Mai 2011. Seite 164)
TAGESSPIEGEL 12.05.2011 21:46 Uhr
Ungeliebte Kundschaft
Wie Krankenkassen die Versicherten der City BKK abwimmeln
Die rund 168.000 Versicherten der pleitegegangenen City PKK werden von anderen Krankenkassen offenbar häufig abgewimmelt – sie gelten als überaltert und teuer durch hohe Inanspruchnahme von Leistungen.
Tatsächlich ruht die überraschende AOK-Erkenntnis auf einer höchst fragwürdigen Argumentationsbasis. Die Begründung für den überraschenden KV-Befund laut nach Jürgen Klauber, dem Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO):
“Den Berechnungen liegt die Beobachtung zugrunde, dass die Behandlungskosten vor dem Tod eines Menschen besonders hoch sind – unabhängig, ob er mit 70, 80 oder 90 Jahren stirbt.”
(aus: VERSORGUNGS-REPORT 2012: Schwerpunktthema “Gesundheit im Alter”. Medizin und Pflege für eine alternde Gesellschaft. AOK Bundesverband Pressemitteilung 28.11.11 )
Das bestätigt eigentlich die These vom überproportionalen Kostenanstieg im Gesundheitswesen, da genau die Gruppe der 70-90jährigen künftig kräftig steigen soll. Offenkundig hat das den Kollegen der Frankfurter Rundschau ebenfalls irritiert und zur Recherche veranlaßt. Bei ihm ließt sich die AOK-Begründung ganz anders:
Den Berechnungen liegt die Beobachtung zugrunde, dass die längere Lebenserwartung an sich nicht zu höheren Kosten führt. Denn wir altern dank des medizinischen Fortschritts und wegen eines anderen Lebensstils gesünder als früher. Ausschlaggebend sind vielmehr die Behandlungskosten unmittelbar vor dem Tod, die in der Regel extrem hoch sind. Sie sind aber abhängig vom Alter. Untersuchungen zeigen, dass zum Beispiel ein 90-Jähriger an seinem Lebensende geringere Kosten verursacht als ein 60-Jähriger. Stichproben in Deutschland haben ergeben, dass die Anzahl der Krankenhaustage im letzten Lebensjahr bei 55- bis 64-jährigen Patienten am größten ist und mit höherem Sterbealter kontinuierlich abfällt. Diese Entwicklung liegt unter anderem daran, dass Ärzte bei Hochbetagten nicht mehr die gesamte zur Verfügung stehende Gesundheitsmaschinerie in Gang setzen, sondern eher zurückhaltend behandeln.
(aus: Gesundheit: SENIOREN SIND KEINE LAST FÜR KASSEN. FRANKFURTER RUNDSCHAU 30.11.2011 )
Dennoch stehen die AOK-Daten im Widerspruch zu den bislang bekannten und unmißverständlichen Statistiken, auf die etwa die Bundesregierung in ihrem ersten Demographie-Bericht (Oktober 2011) zurückgreift:
aus: Bericht der Bundesregierung zur demografischen Lage und künftigen Entwicklung des Landes. Oktober 2011, Seite 150
Die wenig überzeugende AOK-These von der ausbleibenden Kostenexplosion im Gesundheitswesen durch die fortschreitende Alterung der Bevölkerung lenkt den Blick auf eine zentrale Schlußfolgerung der Kassenvertreter:
Der demografische Wandel dürfe nicht länger als Argument für die ständige Forderung nach mehr Geld und neuen Leistungen herhalten, betonte Deh*
(aus: VERSORGUNGS-REPORT 2012: Schwerpunktthema “Gesundheit im Alter”. Medizin und Pflege für eine alternde Gesellschaft. AOK Bundesverband Pressemitteilung 28.11.11 ) – *HBF-Info: Uwe Deh ist der geschäftsführende Vorstand des AOK-Bundesverbandes)
und:
(….) Als eigentliches Problem der GKV bezeichnete es der AOK-Vorstand, “dass die Ausgaben der Krankenkassen für Ärzte, Krankenhäuser und Medikamente seit Jahren in schöner Regelmäßigkeit stärker steigen als die Einnahmen”.
(aus: Demografische Entwicklung löst keine “Kostenexplosion” aus. AOK-Bund Medienservice (ams) 28.11.11 )
Im übrigen räumt die AOK nach Angaben der Frankfurter Rundschau ein:
Der geringe Einfluss der Demografie auf die Kostenentwicklung lässt sich im Übrigen nicht von der Kranken- auf die Pflegeversicherung übertragen. Laut Wido-Versorgungsreport führt die Alterung bis 2050 zu einer Verdopplung der Zahl der Demenzkranken – von derzeit 1,4 auf dann drei Millionen. Und neun von zehn Demenzkranken sind pflegebedürftig. Daran wird sich voraussichtlich nichts ändern.
(aus: Gesundheit: SENIOREN SIND KEINE LAST FÜR KASSEN. FRANKFURTER RUNDSCHAU 30.11.2011 )
Diese Entwicklung macht letztlich auch den Krankenkassen Sorgen, wie der gestern veröffentlichte “Pflegereport 2011” der Barmer GEK dokumentiert:
Pflege-Risiko für Frauen hoch
Größte gesetzliche Kasse warnt vor Reform im Schneckentempo und falscher Förderung
Vor allem zunehmende Demenzerkrankungen stellen die Pflegeversicherung vor schwierige Herausforderungen
Private Zusatzabsicherung nach Riester-Vorbild in der Kritik: Es bestehe Gefahr, Pflegesicherung nur für Reiche zu etablieren
Kathrin Gotthold
Über Dreißig? Weiblich? Dann stehen die Chancen nicht schlecht, im Verlauf des Lebens pflegebedürftig zu werden. Drei von vier Frauen über 30 Jahre müssen einer Studie zufolge damit rechnen, einmal pflegebedürftig zu werden. Bei Männern trifft es jeden zweiten. Nach dem “Pflegereport 2011”, den Deutschlands größte gesetzliche Krankenkasse Barmer GEK in Zusammenarbeit mit dem Bremer Zentrums für Sozialpolitik erstellt hat, hat die Zahl der Pflegebedürftigen von 1999 bis 2009 um 16 Prozent auf 2,4 Millionen zugenommen – allein seit dem Jahr 2007 um 4,1 Prozent. Die Ursache ist klar: eine alternde Bevölkerung. Bei immer mehr älteren Menschen, hilft es kaum, dass der Anteil der Pflegebedürftigen in einer Altersklasse leicht rückläufig ist.
Der stellvertretende Barmer-GEK-Vorsitzende Rolf-Ulrich Schlenker warnte vor diesem Hintergrund vor einem “enormen Handlungsdruck” bei der Pflegefinanzierung und forderte vor allem die schnelle Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.
RHEINISCHE POST ONLINE 28.11.2011 – 02:30
Geplanter Reform des Pflegebegriffs
JEDER DRITTE KÖNNTE WENIGER GELD BEKOMMEN
VON EVA QUADBECK
Berlin (RP). Die geplante Reform des Pflegebegriffs wird etliche Verlierer mit sich bringen. Das geht aus einer Untersuchung des Finanzwissenschaftlers Volker Ulrich von der Universität Bayreuth hervor.
Zum Thema siehe auch:
- (Renommierter) Gesundheitsforscher: Demographische Entwicklung erzwingt Ab- statt Ausbau medizinischer Leistungen:
Ärzte Zeitung, 21.09.2011
Schleswig-Holstein lässt die Hosen runter
Wie stehts um die Gesundheitsversorgung im Norden? Keiner weiß es so genau. Zu lange habe man sich weggeduckt, klagt Gesundheitsminister Garg. Jetzt nimmt sich das Land selbst unter die Lupe – und will rasche Ergebnisse.
KIEL (di). Gesundheitsversorgung im Konsens gestalten: Diesen Versuch unternimmt Schleswig-Holstein. Verbände, Wissenschaft und Politik sind im Boot.
Seit Jahrzehnten mahnt Professor Fritz Beske politische Konsequenzen aus den Daten des demografischen Wandels an – bislang aber hat sich “Politik weggeduckt”, wie es Schleswig-Holsteins Gesundheitsminister Dr. Heiner Garg ausdrückte.
Hintergrund
NORDEN PROPHEZEIT: WOHLFÜHL-VERSORGUNG WIRD ENDEN
Schleswig-Holstein nimmt sich selbst unter die Lupe. Ein Beirat aus verschiedenen Verbänden sucht nach Lösungen für drängende Probleme in der Gesundheitsversorgung. Die erste Analyse spart nicht mit drastischen Worten und zeigt auf, was sich alles verändern wird.
(….) Schleswig-Holsteins Gesundheitsminister Dr. Heiner Garg (FDP) ist fest entschlossen, die aller Voraussicht nach unpopulären Lösungsvorschläge am 3. März 2012 und damit kurz vor der Landtagswahl zu präsentieren.
Verschieben aus parteipolitischer Taktiererei ist für ihn keine Lösung. Auch Gesundheitsökonom Professor Fritz Beske sieht Handlungsbedarf und warnt schon jetzt: “Wir müssen uns auf eine Situation einstellen, die weit entfernt ist von Wohlfühlen.” (…)
Diskutierte Lösungen kosten Geld oder Personal
Fest steht für Beske, dass die Politik die Bevölkerung auf Einschnitte vorbereiten muss. “Uns steht Abbau, nicht Ausweitung bevor.” Derzeit diskutierte Lösungen kosteten entweder Geld oder mehr Personal – “beides haben wir nicht”, stellte der Gesundheitsökonom klar. Deshalb kommt Deutschland nach seiner Ansicht nicht um eine öffentliche Diskussion über die Prioritäten, die man in der Gesundheitsversorgung setzen will, herum.
Zum Thema siehe auch:
- Die Alterslast sollen andere Tragen – HBF-Gastbeitrag bei ZEIT-Online: Solidarität in der grauen Republik Deutschland: Die Alterslast sollen andere tragen! – ZEIT Online-Serie “Das demografische Experiment”, Teil XII (HBF 15.06.11)
- HBF-Themen-Archiv “Vergreisung/Folgen”
Abonnenten/innen des HBF-Premium-PLUS-Dienstes finden die weiterführenden Links ab 19:40 Uhr HIER