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In den letzten zehn Jahren haben sich in der Bundesrepublik Deutschland die öffentlichen Leitbilder von Elternschaft, des Mutter- und des Vaterseins, auch das Leitbild des Kindseins beträchtlich verändert. Wer heute sein Kind längere Zeit, gar Vollzeit, zu Hause betreuen will, gerät unter Rechtfertigungsdruck und sieht sich so manchem wenig schmeichelhaften Urteil ausgesetzt. Das Bild der fortdauernd über dem Kind kreisenden „Helikopter-Mutter" hat inzwischen das der vernachlässigenden, weil erwerbstätigen „Rabenmutter" abgelöst. Neben ihm steht das der „bildungsfernen" Eltern, die – aus welchen Gründen auch immer – den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht werden.
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Die Rechte des Kindes auf nichtelterliche – das heißt: öffentliche – Betreuung sind kontinuierlich ausgedehnt worden. Beklagt wird nur, dass die Verwirklichung dieses Rechts diesem weit hinterherhinkt. (….) Versorgung und Fürsorge durch den Staat ist zunehmend an die Stelle elterlicher oder familialer Selbsthilfe getreten – auch weil die Bürger dies verstärkt so fordern – um das Erwerbspotential ihres Haushalts zu erhöhen und sich auf diese Weise selbst zu helfen. Zugleich hat der Staat mehr Möglichkeiten bekommen, vorsorglich fürsorgend in Familien bzw. in den Umgang der Eltern mit ihren Kindern einzugreifen. (…)
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Der Wandel von Elternschaft und Kindsein lässt sich in einem ersten Schritt als „Verschwinden der Familienkindheit" bezeichnen. Die jetzt geborenen Kinder werden von Anfang an viel Zeit in Institutionen jenseits der Familie verbringen: in Krippen, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen, ihre Eltern mehr Zeit in der Erwerbsarbeit. (….) Sozialpolitik soll dabei helfen, das elterliche Erwerbs- und das kindliche Bildungspotential zu aktivieren. (….) Mit den veränderten Erwartungen an beide Eltern, gleich ob Frau oder Mann, Mutter oder Vater, geht ein Abschied vom Maternalismus einher. Dies bedeutet einerseits die Zurückweisung der Idee, dass es eine besondere und besonders zu schützende Mutter-Kind-Beziehung gibt und bewirkt andererseits eine tendenzielle Entfamiliarisierung des Kindes. Dadurch ergibt sich insgesamt eine Neujustierung des Verhältnisses zwischen Eltern, Kindern und Gesellschaft.
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Die Stärkung des Mannes als betreuender Vater geht zwangsläufig mit einer Schwächung der Stellung der Frau als Mutter einher. Sie wird in der bereits angedeuteten tendenziellen Vermeidung des Wortes „Mutter" bzw. „Mütter" deutlich. (….)
Das BUNDESVERFASSUNGSGERICHT hat traditionell – und durchaus in Übereinstimmung mit dem oben kurz erläuterten Subsidiaritätsprinzip – den Erziehungsvorrang der Eltern damit begründet, dass „in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution". (…) Es hat daher auch bisher davon abgesehen, das Elternrecht „bestimmten staatlichen Erziehungszielen unterzuordnen". Stattdessen hat es immer wieder betont, „dass dem Staat nicht die Aufgabe zukomme, ,gegen den Willen der Eltern für eine den Fähigkeiten des Kindes bestmögliche Förderung zu sorgen'". (….) Unterhalb dieser Schwelle kann der Staat nur Hilfe auf freiwilliger Basis anbieten. Dadurch besteht eine „staatsfreie" Lücke zwischen dem Erreichen der Schwelle der Kindeswohlgefährdung und dem, was Experten als „eigentlich richtiges" Erziehungshandeln und -ergebnis definieren, für dessen Durchsetzung aber vom elterlichen Willen eventuell abgewichen werden müsste, will man dem Kind seine sozialen Umstände nicht als persönliches Schicksal zumuten. (…)
(…) So heißt es in einem Bericht des Bundesfamilienministeriums: „Kinder werden in Familien und den Herkunftsmilieus nicht mehr in der Selbstverständlichkeit mit den Ressourcen ausgestattet – jedenfalls im Schnitt gesprochen bzw. für die große Mehrheit der Kinder -, die moderne Gesellschaften benötigen, um den Anforderungen an die individuelle Selbstregulierung durchschnittlich gerecht zu werden."14
(…) Vielen Sonntagsreden zum Trotz: Das mit dem sozialinvestiven Wohlfahrtsstaat verbundene neue Leitbild begreift Familien und deren Mitglieder in erster Linie als Wirtschaftsfaktoren für die Gesellschaft. Es verlangt von den Eltern den optimalen Einsatz ihres „Humankapitals", und zwar im doppelten Sinne: erstens durch die möglichst frühzeitige und vollständige (Wieder-)Eingliederung in den Erwerbsprozess und zweitens durch die Erziehung der Kinder zu geeigneten Mitgliedern der Gesellschaft. Diese Erziehung soll in „Verantwortungsgemeinschaft" mit öffentlichen Einrichtungen erfolgen, d.h. unter Befolgung staatlicher Bildungs- und Erziehungsideale, und dies in einer ohnehin geschrumpften Familienzeit / Zeit für Familie. Die Überprüfung und Schulung der Kompetenz von Eltern und Kindern -auch schon der ganz kleinen – erfolgen zunehmend auf der Basis von vorgegebenen Zielgrößen und nach von außen gesetzten, bevorzugt „evidenzbasierten" Maßstäben, die wenig Raum für Eigensinn und Abweichung im elterlichen Handeln und in der kindlichen Entwicklung lassen. Sollten sich diese Tendenzen durchsetzen, würde das Handeln der Eltern zunehmend durch fremdgesetzte Standards bestimmt werden. Es wäre in diesem Sinne „fremdverantwortlich", wenig selbstverantwortlich im Sinne des Subsidiaritätsprinzips. Das Problem ließe sich vereinfacht wie folgt zusammenfassen: Der Staat zieht sich zurück aus seiner Pflicht, die Leistungen von Eltern für die Gesellschaft anzuerkennen und Rahmenbedingungen zum Schutz des Familienlebens und zur Wahrung einer möglichst staatsfreien Ausübung der Elternverantwortung zu schaffen. Somit würde er sich mehr und mehr von der Idee der Subsidiarität verabschieden und den Eltern zunehmend Pflichten gegenüber der Gesellschaft auferlegen. Elterliche Verantwortung bestände dann vor allem in der Durchsetzung von außen gesetzter Standards im Umgang mit sich selbst (z.B. ihrer Arbeitsfähigkeit) und mit den Kindern, in einer Verantwortung, die zugleich fremd, von außen, kontrolliert wird.
- SCHAFFT DIE FAMILIE AB! – Dänischer Vordenker der SPD präsentiert seinen (Alp)Traum zur Lösung der Nachwuchskrise (HBF 20.02.06)