Elterngeld, Partnerbonus, Krippensubventionen:
Notwendige FÖRDERUNG oder schleichende UMERZIEHUNG?
– Eine soziologische (Risiko-)Analyse zum „GESTALTENDEn STAAT“ in der FAMILIENPOLITIK

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HBF-AKTUELL Tübingen 28. März 2014, erstellt 14:21 Uhr, Stand 15:40 Uhr
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Seit der Jahrtausendwende hat sich die Politik eine "Modernisierung" der Verhältnisse in den Familien und zwischen den Eltern auf die Fahnen geschrieben: Mütter sollen sich durch Erwerbstätigkeit eigenständig absichern, Väter partnerschaftlich in der Familie engagieren, Kinder früher und umfassender staatliche Bildungsangebote nutzen. Die erwünschten Verhaltensänderungen will die Politik dabei mit vielfältigen Maßnahmen herbeiführen (vgl. zuletzt HBF 21.03.14). Mit Blick auf die verfassungsrechtlich garantierte Gestaltungsfreiheit der familiären Verhältnisse stellt sich allerdings die Frage, ob die staatliche Einflußnahme lediglich eine Förderung oder eine systematische Einschränkung der elterlichen Entscheidungsmöglichkeiten bewirkt.
Die renommierte Göttinger Soziologin Ilona Ostner hat deshalb diese Entwicklungen mit seltener Gründlichkeit analysiert und eingeordnet. In ihrem Fazit konstatiert sie einen Paradigmenwechsel, der eine neue gesellschaftliche Qualität bedeute. Ob deren Konsequenzen jedoch tatsächlich wünschbar sind, ist allerdings höchst diskussionswürdig:
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ILONA OSTNER
Subsidiarität und Solidarität neu gedacht
Eltern und Kinder im sozialinvestiven Wohlfahrtsstaat
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Inhaltsübersicht:
Wandel von Elternschaft und Kindsein.
Die Erwartung gleicher elterlicher Verantwortung.
Der Bedeutungsverlust der Mutter.
Die neue Begründungsbedürftigkeit sozialpolitischer Leistungen für Mütter.
Zweifel an der elterlichen Kompetenz.
Die Idee des „autonomen" Kindes – Entfamilialisierung als Strategie zur Förderung des Kindeswohls 
Das Recht des Kindes auf Bildung.
Familie und „Familialismus" als Motor sozialer Ungleichheit.
Wahlfreiheit und Subsidiarität im sozialinvestiven Wohlfahrtsstaat.
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Auszüge:
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In den letzten zehn Jahren haben sich in der Bundesrepublik Deutschland die öffentlichen Leitbilder von Elternschaft, des Mutter- und des Vaterseins, auch das Leitbild des Kindseins beträchtlich verändert. Wer heute sein Kind längere Zeit, gar Vollzeit, zu Hause betreuen will, gerät unter Rechtfertigungsdruck und sieht sich so manchem wenig schmeichelhaften Urteil ausgesetzt. Das Bild der fortdauernd über dem Kind kreisenden „Helikopter-Mutter" hat inzwischen das der vernachlässigenden, weil erwerbstätigen „Rabenmutter" abgelöst. Neben ihm steht das der „bildungsfernen" Eltern, die – aus welchen Gründen auch immer – den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht werden.

(…)

Die Rechte des Kindes auf nichtelterliche – das heißt: öffentliche – Betreuung sind kontinuierlich ausgedehnt worden. Beklagt wird nur, dass die Verwirklichung dieses Rechts diesem weit hinterherhinkt. (….) Versorgung und Fürsorge durch den Staat ist zunehmend an die Stelle elterlicher oder familialer Selbsthilfe getreten – auch weil die Bürger dies verstärkt so fordern – um das Erwerbspotential ihres Haushalts zu erhöhen und sich auf diese Weise selbst zu helfen. Zugleich hat der Staat mehr Möglichkeiten bekommen, vorsorglich fürsorgend in Familien bzw. in den Umgang der Eltern mit ihren Kindern einzugreifen. (…)

 

(….)

Der Wandel von Elternschaft und Kindsein lässt sich in einem ersten Schritt als „Verschwinden der Familienkindheit" bezeichnen. Die jetzt geborenen Kinder werden von Anfang an viel Zeit in Institutionen jenseits der Familie verbringen: in Krippen, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen, ihre Eltern mehr Zeit in der Erwerbsarbeit. (….) Sozialpolitik soll dabei helfen, das elterliche Erwerbs- und das kindliche Bildungspotential zu aktivieren. (….) Mit den veränderten Erwartungen an beide Eltern, gleich ob Frau oder Mann, Mutter oder Vater, geht ein Abschied vom Maternalismus einher. Dies bedeutet einerseits die Zurückweisung der Idee, dass es eine besondere und besonders zu schützende Mutter-Kind-Beziehung gibt und bewirkt andererseits eine tendenzielle Entfamiliarisierung des Kindes. Dadurch ergibt sich insgesamt eine Neujustierung des Verhältnisses zwischen Eltern, Kindern und Gesellschaft.

(…)

 

Deutschland hat mit der Neuregelung der Elternzeit 2007 Anreize dafür geschaffen, dass Väter wenigstens zwei Monate das Kleinkind selbst betreuen. Die Regulierung dieses Teils der Privatsphäre, die Einmischung in die ehemalige Privatangelegenheit des Paares, wie es die elterlichen Aufgaben zu teilen wünscht, scheint von der Öffentlichkeit zunehmend akzeptiert zu werden.(…)
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Der Bedeutungsverlust der Mutter
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Die Stärkung des Mannes als betreuender Vater geht zwangsläufig mit einer Schwächung der Stellung der Frau als Mutter einher. Sie wird in der bereits angedeuteten tendenziellen Vermeidung des Wortes „Mutter" bzw. „Mütter" deutlich. (….)

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Zweifel an der elterlichen Kompetenz
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Das BUNDESVERFASSUNGSGERICHT hat traditionell – und durchaus in Übereinstimmung mit dem oben kurz erläuterten Subsidiaritätsprinzip – den Erziehungsvorrang der Eltern damit begründet, dass „in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution". (…) Es hat daher auch bisher davon abgesehen, das Elternrecht „bestimmten staatlichen Erziehungszielen unterzuordnen". Stattdessen hat es immer wieder betont, „dass dem Staat nicht die Aufgabe zukomme, ,gegen den Willen der Eltern für eine den Fähigkeiten des Kindes bestmögliche Förderung zu sorgen'". (….) Unterhalb dieser Schwelle kann der Staat nur Hilfe auf freiwilliger Basis anbieten. Dadurch besteht eine „staatsfreie" Lücke zwischen dem Erreichen der Schwelle der Kindeswohlgefährdung und dem, was Experten als „eigentlich richtiges" Erziehungshandeln und -ergebnis definieren, für dessen Durchsetzung aber vom elterlichen Willen eventuell abgewichen werden müsste, will man dem Kind seine sozialen Umstände nicht als persönliches Schicksal zumuten. (…)

 

(…) So heißt es in einem Bericht des Bundesfamilienministeriums: „Kinder werden in Familien und den Herkunftsmilieus nicht mehr in der Selbstverständlichkeit mit den Ressourcen ausgestattet – jedenfalls im Schnitt gesprochen bzw. für die große Mehrheit der Kinder -, die moderne Gesellschaften benötigen, um den Anforderungen an die individuelle Selbstregulierung durchschnittlich gerecht zu werden."14

(…)  
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Familie und „Familialismus" als Motor sozialer Ungleichheit
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Der international tätige Wohlfahrtsstaatsforscher und Politikberater Gosta Esping-Andersen sah als einer der ersten im „Familialismus", der sozialpolitisch geförderten Familienlastigkeit des Aufwachsens der Kinder, den Kern einer überholten Wohlfahrtsstaatlichkeit:17 Der Familialismus verhindere nicht nur die Vermehrung von Dienstleistungstätigkeiten im öffentlichen und privaten Sektor und damit die Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen, sondern erhöhe dadurch auch die Kosten des Kinderhabens. Dies wiederum äußere sich in niedrigen Geburtenzahlen und folglich in der Krise der in den kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten existierenden Sozialversicherungssysteme, die auf dem Generationenvertrag aufbauen. Darüber hinaus – so Esping-Andersen – verhindere der „Familialismus" auch dringend benötigte Investitionen in die Kinder und deren Zukunft. Ein neues Verständnis von Familie müsse sich daher von diesem Familialismus verabschieden. Der Blick auf die nordeuropäischen Länder, vor allem auf Schweden, könne zeigen, wie die Befreiung der Familie von ihren Betreuungspflichten und die Individualisierung von Kindheit und Alter gleich mehreren politischen Zielen dienen: der Erhöhung der Zahl erwerbstätiger Frauen, der Verwirklichung des „Kinderwunsches", konkret: der Steigerung der Geburten, dem Umbau des Sozialstaats, der sich in Zeiten neuer ökonomischer Herausforderungen zu einem kindzentrierten, sozialinvestiven Wohlfahrtsstaat entwickeln könne. (…)
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Wahlfreiheit und Subsidiarität im sozialinvestiven Wohlfahrtsstaat
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(…) Vielen Sonntagsreden zum Trotz: Das mit dem sozialinvestiven Wohlfahrtsstaat verbundene neue Leitbild begreift Familien und deren Mitglieder in erster Linie als Wirtschaftsfaktoren für die Gesellschaft. Es verlangt von den Eltern den optimalen Einsatz ihres „Humankapitals", und zwar im doppelten Sinne: erstens durch die möglichst frühzeitige und vollständige (Wieder-)Eingliederung in den Erwerbsprozess und zweitens durch die Erziehung der Kinder zu geeigneten Mitgliedern der Gesellschaft. Diese Erziehung soll in „Verantwortungsgemeinschaft" mit öffentlichen Einrichtungen erfolgen, d.h. unter Befolgung staatlicher Bildungs- und Erziehungsideale, und dies in einer ohnehin geschrumpften Familienzeit / Zeit für Familie. Die Überprüfung und Schulung der Kompetenz von Eltern und Kindern -auch schon der ganz kleinen – erfolgen zunehmend auf der Basis von vorgegebenen Zielgrößen und nach von außen gesetzten, bevorzugt „evidenzbasierten" Maßstäben, die wenig Raum für Eigensinn und Abweichung im elterlichen Handeln und in der kindlichen Entwicklung lassen. Sollten sich diese Tendenzen durchsetzen, würde das Handeln der Eltern zunehmend durch fremdgesetzte Standards bestimmt werden. Es wäre in diesem Sinne „fremdverantwortlich", wenig selbstverantwortlich im Sinne des Subsidiaritätsprinzips. Das Problem ließe sich vereinfacht wie folgt zusammenfassen: Der Staat zieht sich zurück aus seiner Pflicht, die Leistungen von Eltern für die Gesellschaft anzuerkennen und Rahmenbedingungen zum Schutz des Familienlebens und zur Wahrung einer möglichst staatsfreien Ausübung der Elternverantwortung zu schaffen. Somit würde er sich mehr und mehr von der Idee der Subsidiarität verabschieden und den Eltern zunehmend Pflichten gegenüber der Gesellschaft auferlegen. Elterliche Verantwortung bestände dann vor allem in der Durchsetzung von außen gesetzter Standards im Umgang mit sich selbst (z.B. ihrer Arbeitsfähigkeit) und mit den Kindern, in einer Verantwortung, die zugleich fremd, von außen, kontrolliert wird.

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Zum Thema siehe auch:
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