FIT für die ALTENREPUBLIK:
Das PRÄVENTIONSGESETZ der Bundesregierung
– Mit einem Tischfeuerwerk gegen gesundheitsfeindliche Strukturprobleme
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HBF-Aktuell, Tübingen 18.12.2014, erstellt 15:24 Uhr, Stand 21:15 Uhr
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Die Alterung des Landes schlägt schon jetzt massiv auf das Gesundheitswesen durch (vgl. z.B. HBF 2014). Erst kürzlich haben Bund und Länder deshalb einen weiteren Schritt unternommen, um das medizinische Angebot weiter zu „straffen“ (HPL). Zur Strategie der Bundesregierung bei der „Gestaltung des demographischen Wandels“ gehört es auch, durch Gesundheitsförderung und Prävention Krankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen (HPL). Das dazu gestern vom Bundeskabinett beschlossene Gesetz (HPL) weckt allerdings nur Hoffnungen (HPL), die es mit Blick auf die davon gänzlich unberührten Rahmenbedingungen (HPL) erkennbar nicht erfüllen kann.
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HBF-VOLLTEXT
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Die Alterung des Landes schlägt schon jetzt massiv auf das Gesundheitswesen durch (vgl. z.B. HBF 22.01.14). Erst kürzlich haben Bund und Länder deshalb mit der vereinbarten Krankenhausreform einen weiteren Schritt unternommen, um das medizinische Angebot weiter zu „straffen“:
F.A.Z., Samstag den 06.12.2014 Wirtschaft 22
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Bund und Länder einigen sich auf Krankenhausreform
Eine Milliarde für Klinikschließungen und Umwandlungen
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rike. BERLIN. 5. Dezember. Die Vertreter von Bund und Ländern haben sich am Freitag in Berlin auf Eckpunkte zu einer Krankenhausreform geeinigt, die Anfang 2016 in Kraft treten soll. Im Zentrum der Verhandlungen stand die Frage, wie mit Überkapazitäten umgegangen werden soll, wie die Pflege auf den Stationen verbessert werden kann und wie sichergestellt wird, dass die heimischen Kliniken genügend Mittel für Investitionen zur Verfügung haben (…)

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Krankenhausreform

“WIR HABEN DEN GROSSEN WURF NICHT GESCHAFFT”

Eine große Klinikreform sollte auf den Weg gebracht werden. Aber die auseinanderdriftenden Interessen von Bund und Ländern haben nur vorsichtig Veränderungen angestoßen. Das räumt auch CDU-Gesundheitsexperte JENS SPAHN ein.

Von Ilse Schlingensiepen

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NEUSS. Die von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf den Weg gebrachten Eckpunkte für eine Klinikreform sind auch nach Einschätzung von Beteiligten zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber mehr nicht. (…)

Die Ärzte wehrten sich gegen Unterstellungen, dass ihr Verhalten durch finanzielle Anreize beeinflusst werde, sagte der Präsident der Ärztekammer Nordrhein Rudolf Henke.

Allerdings werde der Konflikt zwischen den ärztlichen Überzeugungen und ökonomischem Druck immer stärker. “Wir haben als Ärzte das Gefühl, dass wir mit dem Rücken zur Wand stehen.”

Die Ärzteschaft hätte in die Beratungen der Bund-Länder-AG eingebunden werden sollen, findet Henke. Sie hätte praktische Erfahrungen aus der Versorgungsrealität beisteuern können. (…)

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“Situation der Pflege ist katastrophal”

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“Grundsätzlich ist die Situation der Pflege im Krankenhausbereich katastrophal”, stellte NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) – Mitglied der Bund-Länder-Kommission – klar.

Die Eckpunkte sind auch in ihren Augen an vielen Stellen nur ein Anfang. “Gedanklich muss man sich schon auf die nächste Reform einstellen, denn diese wird die Probleme, die mit dem demografischen Wandel verbunden sind, nicht lösen.”

Die KGNW biete den Mitgliedern der Bund-Länder-Kommission in den kommenden Wochen den kritischen Dialog an, sagte ihr Präsident Jochen Brink. Dabei werde man “die sich abzeichnende unkontrollierte Übersteuerung des Vergütungssystems” im Auge behalten.

Die Kliniken stellen sich gern jeder Debatte über Qualität, sagte Brink. Die vorgesehenen Qualitätsabschläge würden allerdings nichts zur Qualitätsverbesserung beitragen.

“Es werden erfolgsabhängige Elemente in die medizinische Leistungsvergütung eingeführt, die die Patientenselektion fördern und mit einem Kapazitätsabbau mit Abteilungs- und Krankenhausschließungen verbunden sein werden.” (….)

Zur Strategie der Bundesregierung bei der „Gestaltung des demographischen Wandels“ gehört es auch, durch Gesundheitsförderung und Prävention Krankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen:
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HERMANN GRÖHE: “Krankheiten vermeiden, bevor sie entstehen”
Bundeskabinett beschließt Präventionsgesetz
Das Bundeskabinett hat heute den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz) beschlossen.
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Dazu erklärt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe: “Es geht darum, Krankheiten zu vermeiden, bevor sie überhaupt entstehen. (….)
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Auszug 17.12.14
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention
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Die demografische Entwicklung mit einer anhaltend niedrigen Geburtenrate, einem erfreulichen Anstieg der Lebenserwartung und der damit verbundenen Alterung der Bevölkerung sowie der Wandel des Krankheitsspektrums hin zu chronisch-degenerativen und psychischen Erkrankungen und die veränderten Anforderungen in der Arbeitswelt erfordern eine effektive Gesundheitsförderung und Prävention. (…)
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Das dazu gestern vom Bundeskabinett beschlossene Gesetz weckt allerdings nur große Hoffnungen
Dazu erklärt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe: “Es geht darum, Krankheiten zu vermeiden, bevor sie überhaupt entstehen. Das gilt für jeden Einzelnen, ist aber genauso ein Anspruch an all diejenigen, die für die Gesundheit anderer mit Verantwortung tragen in Kitas, Schulen, am Arbeitsplatz oder im Pflegeheim. Ziel muss sein, die Umgebung, in der wir leben, lernen und arbeiten, so zu gestalten, dass sie die Gesundheit unterstützt. Ich freue mich, dass es nach mehreren Anläufen in der Vergangenheit nun einen breiten Konsens darüber gibt, bei der Prävention einen wichtigen Schritt nach vorne zu gehen.”
Das Präventionsgesetz verbessert die Grundlagen dafür, dass Prävention und Gesundheitsförderung in jedem Lebensalter und in allen Lebensbereichen als gemeinsame Aufgabe der Sozialversicherungsträger und der Akteure in Ländern und Kommunen gestaltet werden. Darüber hinaus sollen betriebliche Gesundheitsförderung und Arbeitsschutz enger verknüpft, die Früherkennungsuntersuchungen fortentwickelt und das Impfwesen gefördert werden. (…)
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aus: HERMANN GRÖHE: “Krankheiten vermeiden, bevor sie entstehen”. Bundesgesundheitsministerium Pressemitteilung Berlin, 17. Dezember 2014
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…..die es mit Blick auf die davon gänzlich unberührten Rahmenbedingungen erkennbar nicht erfüllen kann. So ist bekanntermaßen materielle und soziale Armut ein zentraler Risikofaktor für die Gesundheit von Erwachsenen genauso wie bei Kindern:
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Kongress “Armut und Gesundheit”
Armut kostet elf Jahre Lebenszeit
Sozial Benachteiligte sind häufiger krankhaft übergewichtig, leiden öfter unter Typ-2-Diabetes und chronischer Bronchitis, sie treiben seltener Sport und rauchen mehr. Ihren Kindern ergeht es nicht besser.
von Adelheid Müller-Lissner
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Männer mit besonders niedrigem Einkommen haben zum Zeitpunkt ihrer Geburt eine um fast elf Jahre verringerte Lebenserwartung im Vergleich zu denen, die am besten verdienen, sagte der Epidemiologe Thomas Lampert vom Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin.
Benachteiligten Frauen fehlen acht Jahre. Betrachtet man nur die gesunde Lebenszeit, so liegt der Unterschied bei 14 Jahren. 65-Jährige aus der niedrigsten Einkommensgruppe haben fast fünf Jahre weniger „Ruhestand“ vor sich als besser gestellte Rentner. „Wir glauben, dass die Lebensbedingungen daran wesentlichen Anteil haben, sagte Lampert.
 Menschen mit niedrigem Sozialstatus sind häufiger krankhaft übergewichtig, leiden öfter unter Typ-2-Diabetes und chronischer Bronchitis, sie treiben seltener Sport und rauchen mehr. Und sie schätzen ihre Gesundheit fünfmal öfter als mittelmäßig bis schlecht ein. Das geht aus der RKI-Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) hervor. Besondere Sorgen macht Lampert, dass sich das in der nächsten Generation fortsetzt. Das belegen die Kinder-und-Jugend-Daten einer anderen RKI-Erhebung. Und es gibt Hinweise darauf, dass sich die Unterschiede verfestigen und ausweiten. In keinem Wohlfahrtsstaat besteht Hoffnung auf Umkehr. Nur die Daten seien oft besser, weil die Studien mit Mortalitätsregistern zusammengeführt werden könnten.
„Verteilungs- und Bildungspolitik sind Gesundheitspolitik“, kommentierte der Sozialwissenschaftler Rolf Rosenbrock, Vorstand der Gesundheit Berlin-Brandenburg.  (….)
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Gerade diese gesundheitlich entscheidenden Lebensbedingungen für arme Eltern und ihre Kinder sind durch die Hartz-IV-Gesetze faktisch sogar noch weiter eingeschränkt worden, wie der Paritätische Wohlfahrtsverband in seiner gestern veröffentlichten 10 Jahres-Bilanz zu dem rot-grünen “Reformwerk” anprangert:     
DER PARITÄTISCHE GESAMTVERBAND
10 Thesen zu 10 Jahren Hartz IV
Zehn Jahre nach Inkrafttreten von Hartz IV kann die Reform auf ganzer Linie als gescheitert betrachtet werden: Die Vermittlung ist gefloppt, die Regelsätze sind nicht bedarfsgerecht und statt bürgerfreundlicher Verwaltung ist Hartz-IV ein Bürokratiemonster. Der Paritätische Gesamtverband hat seine Bilanz zu zehn Jahren Hartz IV in zehn Thesen zusammengefasst.
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These 5: Hartz IV raubt Kindern Perspektiven.

Die Armutsgefährdungsquote von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren blieb von 2005 bis 2013 nahezu unverändert bei 19,5 Prozent. Kinder haben ein überdurchschnittlich hohes Armutsrisiko. Das spiegelt sich auch im Bezug von Hartz IV wider: Die absolute Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die in Familien im Hartz-IV-Bezug aufwachsen, konnte seit Einführung des SGB II nur um rund 80.000 von 1,71 Millionen auf 1,63 Millionen Kinder und Jugendliche gesenkt werden. Die Angewiesenheit der unter 15jährigen auf Leistungen ist sogar gestiegen: Waren 2005 14,7 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren auf Hartz IV bzw. Sozialgeld angewiesen, sind es aktuell 15,4 Prozent.
Trotz der harschen Kritik des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2010 an der Bemessung der Regelleistungen für Kinder gibt es bis heute keine an kinderspezifischen Bedarfen orientierte Leistungsermittlung für Kinder. Die bisher verwendete Datenbasis ist absolut unzureichend. Leistungen zur Bildung und Teilhabe werden nur noch auf besonderen Einzelantrag hin gewährt. Der Zugang zu niedrigschwelligen, nicht stigmatisierenden Hilfen wurde dadurch nochmals erschwert. Das neue „Bildungs- und Teilhabepaket” ist erwartungsgemäß gefloppt und kommt bei den Kindern und Jugendlichen nicht an.
Verschiedene politische Maßnahmen haben die durch Hartz IV fortgeschriebene und verfestigte Chancenungleichheit zwischen Kindern aus armen und reichen Familien noch verschärft: Bis zum Jahresende 2006 gab es bspw. das Erziehungsgeld, das zwischen 300 und 450 Euro monatlich betrug und nicht auf die frühere Sozialhilfe angerechnet wurde. Auch das ab 2007 gezahlte Elterngeld blieb anfangs zum Teil anrechnungsfrei. Seit 2011 wird das Elterngeld jedoch nur noch in Ausnahmen NICHT auf das Arbeitslosengeld II angerechnet. Das Kindergeld dagegen wird IMMER vollständig angerechnet. Familien im Hartz-IV-Bezug haben von den Kindergelderhöhungen der letzten Jahre ebenso wenig profitiert wie von den erst kürzlich beschlossenen Verbesserungen beim Elterngeld. (…)

Die gesundheitliche Belastung ist aber auch bei den Kindern und Jugendlichen in den bundesdeutschen Durchschnittsfamilien gewachsen. Eine politische Antwort der Regierungen von Bund und Ländern auf die programmierte Schrumpf-Alterung des Landes war es, die Durchlaufgeschwindigkeit des Bildungssystems zu erhöhen (Stichworte: “Turbo-Abitur”, “Bologna-Reform”) – bei gleichzeitig systematischer Öffnung des Arbeitsmarktes für leistungsfähige Einwanderer. Im Ergebnis stehen Kinder und ihre Eltern heute unter einem hohen (Konkurrenz)Druck und sind gesundheitlich immer stärker belastet, wie (nicht nur) eine aktuelle Studie des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands zur Lage von Schulpsychologen und Beratungslehrkräften signalisiert:

  Deutschlandfunk  Campus & Karriere / Beitrag vom 15.12.2014

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Erfolgsdruck Schule
Ausgebrannt mit 15 Jahren
Zu 36 Schulstunden pro Woche kommen noch Hausaufgaben, Referate und Prüfungsvorbereitung. Viele Schüler kommen auf 50 bis 60 Lern-Wochenstunden. Wird der Druck aber zu groß und die Freizeit immer knapper, dann können Kinder innerlich ausbrennen. Was läuft falsch, wenn zehn Prozent der Schüler eine psychiatrische Behandlung benötigen?
Von Susanne Arlt
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20 Prozent der Kinder in Deutschland sind psychisch auffällig

Studien des Berliner Robert Koch-Instituts zur Kinder- und Jugendgesundheit belegen, etwa 20 Prozent der Kinder in Deutschland sind psychisch auffällig. Michael von Aster, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Berliner DRK Klinikum Westend, hat die Erfahrung gemacht, dass mehr als die Hälfte dieser Kinder Probleme in der Schule haben und im Unterricht oft scheitern. (…)
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Leistungsdruck bei Schülern
“SCHULPSYCHOLOGEN WERDEN IMMER WICHTIGER”
Klaus Wenzel im Gespräch mit Jörg Biesler
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Das Schulsystem lasse Kinder “sich selber als Notenbündel wahrnehmen”. Um “regelrechte Ängste” bei Schülern abzubauen, brauche es mehr Schulpsychologen, sagte der Präsident des Bayrischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands BLLV, Klaus Wenzel im DLF und fordert eine Schulpolitik, “die junge Menschen ernst nimmt”.
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Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV):” Orientieren uns einmal an den Bedürfnissen der Kinder im 21. Jahrhundert.” (picture alliance / dpa / Armin Weigel)
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Jörg Biesler: Gerade haben wir von Leistungsdruck und der großen Arbeitslast von Schülerinnen und Schülern gehört. Das merken auch die Schulpsychologen, deren ebenfalls hohe Arbeitsbelastung der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband beklagt. Klaus Wenzel ist dessen Präsident. Guten Tag, Herr Wenzel!
Klaus Wenzel: Guten Tag, Herr Biesler! (…)
Biesler: Ja, was sich wohl verändert hat, entnehme ich Ihrer Studie, ist die Tatsache, dass Eltern häufiger zur Beratung kommen, wenn wir vielleicht zuerst mal darüber sprechen: Müssen die sich heute mehr kümmern oder wollen die sich mehr kümmern? Warum kommen die häufiger in die Beratung?
Wenzel: Also es gibt mindestens zwei Gründe, das Erste: Viele Eltern haben heute ein Kind und in dieses Kind wird alles Mögliche reinprojiziert an Wunschvorstellungen, an Erwartungen, und wenn es nicht gleich funktioniert, dann kommen die Eltern in die Sprechstunde. Das Zweite: Die Eltern schauen sich die Arbeitslosenstatistik an und merken, dass es eine ganz stabile Tendenz gibt – je höher der Schulabschluss der jungen Menschen, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sie dauerarbeitslos werden. Also besteht natürlich Interesse seitens der Eltern, dass ihre Kinder möglichst hohe Abschlüsse haben.
Und der dritte Punkt: Wir wissen heute, dass im Beschäftigungs- und im Ausbildungssystem die Ansprüche immer höher geworden sind. Das heißt, junge Menschen müssen ziemlich viel mitbringen, dass sie erfolgreich im Ausbildungssystem bestehen können. Und deswegen macht sich auch eine gewisse Nervosität unter den Eltern breit und sie kommen, sobald eine drei oder vier auf dem Zeugnis steht. Früher sind sie gekommen, wenn eine fünf oder sechs auf dem Zeugnis stand. (…)
Biesler: Das heißt, der Druck steigt von allen Seiten auf die Schülerinnen und Schüler, aus dem Elternhaus, aber möglicherweise auch aus der Schule, und ich lese bei Ihnen, die Erwartungen der Schüler, die seien häufig unerfüllbar, das heißt: Die Kinder projizieren auch schon irgendwas, wie sie sein möchten, und wenn sie das nicht erreichen können, sind sie verzweifelt?

Verzweifelt, aber auch depressiv und agressiv

Wenzel: Ja, sie sind verzweifelt, sie sind oft aber auch depressiv, sie können auch aggressiv werden. Wir erleben viel zu häufig, dass Kinder nicht nur Unlust haben, in die Schule zu gehen, sondern regelrechte Ängste. Und um so was abzubauen, bräuchten wir eben dringend Schulpsychologen, Beratungslehrkräfte, die uns nicht in dem Maße zur Verfügung stehen, wie wir das gern hätten.
Biesler: Wie stark ist denn der Einfluss der Einführung des sogenannten Turboabiturs, also des verkürzten Abiturs und des damit auch einhergehenden Ganztagsunterricht auf die Problematik?
Wenzel: Ein guter Ganztagsunterricht kann sehr hilfreich sein, der kann nämlich entlasten, er kann entspannen, vor allem, wenn es eben ein gebundener, rhythmisierter Ganztag ist. Rhythmisiert bedeutet, dass tagsüber ein Wechsel stattfindet zwischen Anspannung und Entspannung. Insofern ist der Ganztag sicherlich kein Grund dafür, dass die Stresssymptome zunehmen bei Schülern. Aber die Einführung des G8, nicht nur wegen der schlampigen Art und Weise der Einführung, sondern vor allem wegen der strukturellen Veränderungen, das ist ein echter Stressfaktor für viele Schülerinnen und Schüler. (….)

“Aufhören mit der ständigen Bepunktung und Benotung”

Wenzel: Also, da sprechen Sie was ganz Entscheidendes an. Ich schätze sehr die Pädagogik an den Waldorfschulen, aber was Sie so Brimborium nennen, die Anthroposophie, da hätte ich meine Schwierigkeiten. Vielleicht nehmen wir eine gute Mischung aus dem, was in Montessorischulen angeboten wird, auch, was an vielen staatlichen Grundschulen an sehr Positivem angeboten wird, und orientieren uns einmal an den Bedürfnissen der Kinder im 21. Jahrhundert, dann wäre schon viel getan, dann würden wir aufhören mit der ständigen Bepunktung und Benotung, alles muss getestet werden, alles muss gerankt werden. Also ich wünsche mir tatsächlich eine neue Schulkultur, eine andere Lernkultur und eine Schulpolitik, die den jungen Menschen ernst nimmt.
Biesler: Sagt Klaus Wenzel, der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes. Danke schön!
Wenzel: Ich danke Ihnen!
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siehe dazu:
  • Belastungen von Schulpsychologen und Beratungslehrkräften, Vergleich der Studienergebnisse 2005 und 2014:
Leistungsdruck und Stress in der Schule / Belastungen von Schulpsychologen und Beratungslehrkräften, Vergleich der Studienergebnisse 2005 und 2014 - HBF-DatenWeitere Einzelheiten zur Studie finden Sie HIER
Zunehmend gesundheitsbelastend sind offenkundig auch die Arbeitsbedingungen in immer mehr Unternehmen, Betrieben und Verwaltungen. Dort nehmen vor allem die streßbedingten psychischen Probleme besonders schnell zu:
F.A.Z., Freitag den 14.11.2014 Wirtschaft 17
PSYCHISCHE LEIDEN STRESSEN DIE SOZIALKASSEN
Doppelt so viele Krankschreibungen wie vor zwanzig Jahren / Mehr „Burnout“ diagnostiziert
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dc./ami. BERLIN, 13. November. Beinahe jeder zehnte krankheitsbedingte Arbeitsausfall in den deutschen Unternehmen ist mittlerweile durch psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Burnout verursacht. Das ist etwa ein Fünftel mehr als vor fünf Jahren. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Leiden sogar mehr als verdoppelt. Das zeigt der jährliche Fehlzeitenreport der AOK.
Geradezu explosiv hat diesen Daten zufolge die Diagnose „Burnout“ zugenommen. War vor zehn Jahren noch weniger als einer von 1000 Krankenversicherten davon betroffen, sind es inzwischen fünf. Weit überproportional handelt es sich um Beschäftigte in Sozialberufen und um Frauen; diese sind besonders häufig in Kranken-, Altenpflege- und Erziehungsberufen tätig. (…)
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Arbeitsausfall
Psychische Probleme lassen Krankenstand steigen
Dreieinhalb Wochen sind deutsche Arbeitnehmer jedes Jahr krank – eine Woche mehr als noch vor wenigen Jahren. Körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen führen zu den meisten Ausfällen, doch gerade psychische Erkrankungen werden häufiger.
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Berlin – Die Krankenstände in den Betrieben haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Die krankheitsbedingten Ausfälle der bei Betriebskrankenkassen (BKK) versicherten Beschäftigten stiegen von im Schnitt 12,4 Tagen im Jahr 2006 auf 17,6 Tage 2013. Dies geht aus dem BKK-Gesundheitsreport 2014 hervor, der auf Daten von 9,3 Millionen Versicherten zurückgreifen kann. Laut BKK bildet er das Krankheitsgeschehen in Unternehmen repräsentativ ab.
Der Anstieg sei vor allem auf die Zunahme langwieriger und chronischer Erkrankungen zurückzuführen: Nach wie vor sorgen Muskel-und Skeletterkrankungen wie Rückenschmerzen mit einem Viertel der Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) für die meisten Fehlzeiten bei den Pflichtmitgliedern. Ihnen folgen Atemwegserkrankungen (16,2 Prozent) und psychische Störungen (14,7).
Bei Letzteren beobachte man die höchsten Steigerungsraten: Zwischen 1976 und 2013 habe sich die Zahl der von den Kassen registrierten Fehlzeiten von einem halben Tag auf 2,6 Tage mehr als verfünffacht. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam vor einigen Monaten ein Report der Krankenkasse DAK: Der Anstieg der Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen könnte mit einem erhöhten Stresslevel zusammenhängen, allerdings auch damit, dass sich mehr Leute trauen, ihre psychischen Probleme vor ihrem Chef zu offenbaren.
Psychische Erkrankungen führen zu den längsten Fehlzeiten
Der starke Anstieg hängt auch damit zusammen, dass psychische Diagnosen zu besonders langen Krankschreibungen führen: 38 Tage ist ein Arbeitnehmer mit psychischen Problemen im Durchschnitt krankgeschrieben, länger als bei Tumorerkrankungen mit 35 Tagen und Rückenbeschwerden mit im Schnitt 20 Tagen. Über alle Krankheitsarten dauert dem Report zufolge ein einzelner Arbeitsunfähigkeitsfall eines Beschäftigten 12,7 Tage. (…)
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An diesen gesundheitsbelastenden Rahmenbedingungen für Kinder, Jugendliche und Erwerbstätige kann und will die Bundesregierung prinzipiell nichts ändern. Schließlich gilt ihr unverändert – genauso wie den tonangebenden Sozialexperten jeglicher Couleur –  die Steigerung der Arbeitsproduktivität als Schlüssel zur Bewältigung des “demographischen Wandels”, wie sie bereits zu schwarz-gelben Regierungszeiten in ihrem Konzept “Jedes Alter zählt. Demographiestrategie der Bundesregierung” vom April 2012 erläutert hat. Diese “Alternativlosigkeit” für Deutschland hatte FAZ-Kommentator Klaus-Dieter Frankenberger unlängst auf den Punkt gebracht:

 

F.A.Z. vom 25. November, S.1

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DIE GROSSE UNZUFRIEDENHEIT
Von Klaus-Dieter Frankenberger
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(…) Die großen Veränderungen unserer Zeit – Globalisierung, Europäisierung, sozialer Wandel, Einwanderung – schaffen ständig Nachschub für Verdruss und für das Gefühl vieler Leute heran, den Boden unter den Füßen zu verlieren und heimatlos zu werden.
Das hat viel weniger als behauptet mit der Sparpolitik zu tun. Dagegen ist EINWANDERUNG vielleicht das Thema, das besonders verunsichert und einen emotional aufgeladenen Widerspruch provoziert. Es trägt dazu bei, das Vertrauen in den Staat auszuhöhlen, weil er offenkundig nicht mehr ganz Herr seiner Grenzen ist. (…)
 Das wird aber das Grunddilemma nicht zum Verschwinden bringen. Und das hat eben damit zu tun, dass der wirtschaftliche Anpassungsdruck und die soziale Veränderungsgeschwindigkeit unverändert hoch bleiben werden. Wenn gesagt wird, dass wir uns in dieser hyperkompetitiven Welt immer mehr anstrengen müssten, um das Versorgungsniveau und den Lebensstandard von heute nur zu halten, dann ist das zweifellos richtig. Das zu tun bleibt unerlässlich.
Aber vermutlich wird es viele Leute geben, die diese Geschwindigkeit nicht mitmachen können oder nicht wollen. Mit anderen Worten: Die soziale Kluft in Europa wird größer, der Ton der politischen Auseinandersetzung wird rauher, aggressiver, verächtlicher. Hier sind die wahren Triebkräfte zu suchen, die Populismus und Neonationalismus wieder gedeihen lassen.
Und doch sind diejenigen, die von der allgemeinen Verunsicherung profitieren, Illusionsverkäufer mit einem Hang zum Führerkult. Sie können den Wunsch vieler Leute, behütet und beschützt zu werden, nicht erfüllen, sie können allenfalls rhetorisch Trost spenden. Denn die europäischen Staaten werden nicht das weltoffene Modell, das ihnen Wohlstand einbrachte, aufgeben zugunsten von Protektionismus und einem neuen Isolationismus.

 

 

Zum Thema siehe auch:
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Präventionsgesetz
Sieben Euro pro Jahr und Patient sollen die Krankenkassen für Prävention ausgeben dürfen, wenn das geplante Präventionsgesetz kommt. Krankenkassen sind damit unzufrieden, Ärzte auch. Und das grundsätzliche Problem bei der gesundheitlichen Vorsorge bleibt bestehen.
Von Matthias Martin Becker

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