Einwanderungsrekord und der „große“ Streit um die Freizügigkeit:
„Armutseinwanderung“ bleibt Deutschlands kleinste Sorge
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HBF-AKTUELL, Tübingen, 08. Januar 2014, erstellt 12:55 Uhr, Stand 18:30 Uhr
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2013 verzeichnete das Land einen Einwanderungsrekord, der die Gesamtbevölkerung trotz anhaltenden Kinderschwunds zum dritten mal in Folge weiter steigen läßt (HPL). Angesichts dieser Entwicklung fühlt sich die CSU gefordert, die jüngste Ausdehnung der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit auf Bulgaren und Rumänen seit Jahresanfang mit der Warnung vor einem neuen “Armutstourismus” zu verbinden (HPL). Das ist zwar von den Fakten nicht gedeckt (HPL), erscheint aber durchaus geeignet, um der gesteigerten Einwanderung von “nützlichen” Ausländern mehr Akzeptanz in der alternden Bevölkerung zu verschaffen. In diesem Ziel sind sich die neuen Regierungskoalitionäre – bei allem Streit um den CSU-Vorstoß – einig (HPL). Die Hoffnung, damit gesellschaftspolitisches Konfliktpotential abzubauen, ist jedoch trügerisch. Tatsächlich ist das Gegenteil zu erwarten, wie nicht nur der neue Gesundheitsminister erahnen läßt (HPL).
2013 verzeichnete das Land einen Einwanderungsrekord, der die Gesamtbevölkerung trotz anhaltenden Kinderschwunds zum dritten mal in Folge weiter steigen läßt:
Statistisches Bundesamt Pressemitteilung 08.01.2014
ERNEUTER ANSTIEG DER BEVÖLKERUNG FÜR 2013 ERWARTET
WIESBADEN – Nach einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) ist die Einwohnerzahl Deutschlands im Jahr 2013 erneut angestiegen. Lebten am Jahresanfang noch gut 80,5 Millionen Personen in Deutschland, waren es am Jahresende voraussichtlich knapp 80,8 Millionen Personen. Damit wird es das dritte Jahr in Folge eine Zunahme der Bevölkerung gegenüber dem Vorjahr geben. Ursache hierfür sind die erneut hohen Wanderungsgewinne gegenüber dem Ausland, die das Geburtendefizit – die Differenz aus Geburten und Sterbefällen – mehr als nur ausgleichen konnten.
Für das Jahr 2013 wird mit 675 000 bis 695 000 lebend geborenen Kindern und 885 000 bis 905 000 Sterbefällen gerechnet. Da die erwartete Zunahme der Geburten etwas geringer ausfällt als die der Sterbefälle, wächst das Geburtendefizit voraussichtlich auf etwa 200 000 bis 220 000 an. Im Jahr 2012 betrug es 196 000; den 870 000 Sterbefällen standen 674 000 Geburten gegenüber.
Die ohnehin schon hohen Wanderungsgewinne in den beiden Vorjahren (2011: + 279 000, 2012: + 369 000) werden der Schätzung zufolge 2013 nochmals übertroffen: Das Statistische Bundesamt rechnet damit, dass sogar erstmals seit 1993 etwas mehr als 400 000 Personen mehr aus dem Ausland zugezogen als ins Ausland fortgezogen sind. Damals hatte der Wanderungssaldo bei 462 000 gelegen.
Angesichts dieser Entwicklung fühlt sich die CSU gefordert, die jüngste Ausdehnung der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit auf Bulgaren und Rumänen seit Jahresanfang mit der Warnung vor einem neuen “Armutstourismus” zu verbinden:
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 28.12.2013
Wegen Bulgarien und Rumänien
CSU PLANT OFFENSIVE GEGEN ARMUTSMIGRANTEN
“Wer betrügt, der fliegt”: Auf ihrer Klausur in Kreuth will die CSU einen schärferen Kurs gegen Armutsmigranten aus EU-Staaten beschließen. Ihnen soll der Zugang ins Sozialsystem erschwert werden – der Plan richtet sich vor allem gegen Rumänen und Bulgaren, die ab Januar vollen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt haben.
Von Robert Roßmann, Berlin
Der CSU-Vorstoß wird jedoch von den Fakten bislang nicht gedeckt:
handelsblatt.com 08.01.2014, 10:29 Uhr
Armutsmigration
HARTZ IV IST FÜR DIE MEISTEN EU-AUSLÄNDER TABU
Bei der Debatte um Armutszuwanderung geht es auch um die Frage, ob und wann EU-Ausländer Anrecht auf Sozialleistungen haben. Ein Überblick über die Ansprüche.
taz 08.01.14
INTERVIEW
“Wir werden nicht überrollt”
ARBEITSMIGRATION Die Zuwanderer aus Osteuropa sind entweder Akademiker oder sie haben gar keine Berufsausbildung, sagt der Ökonom Holger Schäfer
Barbara Dribbusch
(….)
Holger Schäfer
Der 44-jährige Wirtschaftswissenschaftler ist Experte für europäische Beschäftigungsstrategien am arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW).
F.A.Z., Mittwoch, den 08.01.2014 Wirtschaft 36
Im Gespräch: Frank Martin, Leiter der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit, über Bulgaren und Rumänen
„Chancen der Zuwanderung sind größer als Risiken“
Über Bulgaren und Rumänen auf Arbeitssuche in Hessen wird heftig diskutiert. Nach Ansicht des Arbeitsmarkt- Experten Frank Martin ist es ein überflüssiger Streit.
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 04.01.2014
FAKT UND VORURTEIL
Die CSU warnt vor „Armutseinwanderern“, die das deutsche Sozialsystem belasten. Doch das Gegenteil ist richtig. Rumänen und Bulgaren, die hierzulande arbeiten, bringen dem Staat mehr Geld. Die wichtigsten Zahlen zu einer aufgeregten Debatte
Von Jannis Brühl und Kathrin Haimerl
und HP-PLUS
Allerdings erscheint die von der CSU angestoßene Debatte durchaus geeignet, um der gesteigerten Einwanderung von “nützlichen” Ausländern mehr Akzeptanz in der alternden Bevölkerung zu verschaffen:
Bertelsmann Stiftung Pressemeldung Gütersloh, 17.12.2012
Deutsche hin- und hergerissen in Haltung zur Zuwanderung
Umfrage: Schlechtes Zeugnis für Willkommenskultur / Bertelsmann Stiftung: Deutschland muss attraktiver werden / Jüngere sehen Zuwanderung positiver
Handelsblatt.com 2014-01-08 09:30:16, 08.01.2014
Umfrage
EU-Freizügigkeit teilt Deutschland
Seit Januar gilt die Freizügigkeit in der EU auch für Bulgaren und Rumänen. Die Mehrheit der Deutschen hält diese Regelung für richtig. Doch ein großer Teil der Bevölkerung ist da anderer Meinung.
Auch Bulgaren und Rumänen können jetzt ohne weitere Auflagen in Deutschland nach Arbeit suchen.
Quelle: dpa
Berlin. Die Bundesbürger sind beim Thema Freizügigkeit innerhalb der EU laut einer Umfrage gespaltener Ansicht. Ein Viertel der Befragten (26 Prozent) hält es aus deutscher Sicht für schädlich, dass EU-Bürger überall in der Gemeinschaft arbeiten dürfen. Deutlich mehr (44 Prozent) sehen aber eher einen Nutzen für Deutschland, wie eine am Mittwoch veröffentlichte Forsa-Erhebung im Auftrag des Magazins „Stern“ und des Senders RTL ergab. Weniger klar sind die Mehrheitsverhältnisse bei der Bewertung der seit Januar geltenden vollen Freizügigkeit in der EU für Bulgaren und Rumänen: 42 Prozent finden diese falsch, 50 Prozent richtig. Die Angst vor sogenannter Armutseinwanderung finden 60 Prozent berechtigt und 36 Prozent übertrieben.
und HP-PLUS
Im Ziel, vor allem qualifizierte Einwanderer in Land zu lassen, um den demographisch bedingten Arbeitskräftemangel zu beheben, sind sich die neuen Regierungskoalitionäre – bei allem Streit um den CSU-Vorstoß (Anmerkung 1) – einig:
Wir setzen uns für bedarfsgerechte qualifizierte Zuwanderung ein und wollen insbesondere eine größere Mobilität im europäischen Arbeitsmarkt erreichen. Flankierend wollen wir die Willkommens- und Bleibekultur für ausländische Fachkräfte in Deutschland verbessern. Deswegen werden wir die Dachkampagne „Fachkräfte-Offensive“ fortführen und die regionalen Netzwerke zur Fachkräftesicherung stärker professionalisieren. Wir werden die bereits eingeleiteten Maßnahmen zur Fachkräftegewinnung und Integration in den Arbeitsmarkt (insbesondere die Blaue Karte EU einschließlich der Änderungen im Aufenthaltsgesetz, die Beschäftigungsverordnung und das Gesetz zur verbesserten Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen) innerhalb der Wahlperiode auf ihre Wirksamkeit überprüfen und daraus gegebenenfalls
(….)
Willkommens- und Anerkennungskultur stärken
Wir werden die Willkommens- und Anerkennungskultur in unserem Land stärken. Dies fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt und steigert zugleich die Attraktivität unseres Landes für ausländische Fachkräfte, die wir brauchen.
(aus: Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode. 27.11.13, S. 38 und 106)
Die Hoffnung, damit gesellschaftspolitisches Konfliktpotential abzubauen, ist jedoch trügerisch. Tatsächlich ist das Gegenteil zu erwarten, wie nicht nur der neue Gesundheitsminister Herman Gröhe (CDU) erahnen läßt. So sind sich Fachleute und Betroffene einig, daß die teilweise menschenunwürdigen Zustände bei der professionellen Altenpflege, die immer wieder für Skandale sorgen, auf den massiven Personalmangel zurückzuführen sind. Ursache dafür seien die oft abschreckenden Arbeitsbedingungen, die dringend beseitigt werden müßten:
Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft e.V. (iso) 07.01.2014 10:17
Schlechte Arbeitsbedingungen verstärken den Fachkräftemangel:
Krankenhauspflege am Limit
Die Pflegearbeit im Krankenhaus leidet unter knappen Mitteln und wachsenden Aufgaben. Beschäftigte bringt das regelmäßig an die Grenze ihrer Belastbarkeit, wie eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie zeigt. Nach Einschätzung der Pflegekräfte können schlechte Arbeitsbedingungen einen sich abzeichnenden Fachkräftemangel verschärfen. Diese Befunde decken sich mit Forschungsergebnissen zur sozialen Dienstleistungsarbeit in der Altenpflege, der Jugendhilfe und der Kindertagesbetreuung. Vor allem die Pflege ist negativ vom Spardruck im sozialen Sektor betroffen.
Verdi 01.07.2013
Repräsentativumfrage macht deutlich:
Sehr schwere Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen – Nur 20 Prozent glauben an ein Durchhalten bis zur Rente
Bei der Lösung des Fachkräftemangels im Pflegebereich setzt (nicht nur) der neue Bundesgesundheitsminister Gröhe jedoch lieber den Schwerpunkt auf Zuwanderer/innen, die sich mit den deutschen Arbeitsverhältnissen besser arrangieren:
Bild 04.01.2014 – 15:22 Uhr
GESUNDHEITSMINISTER GRÖHE:
»IN DER PFLEGE SIND WIR AUF ZUWANDERER ANGEWIESEN
Gesundheitsminister Hermann Gröhe (52, CDU) hält eine weitere Zuwanderung zur Lösung des Pflegeproblems in Deutschland für unerlässlich.
„Wir können in der Pflege seit Jahren nur bestehen, weil es auch qualifizierte Zuwanderung gibt“, sagte Gröhe im Interview mit „BILD am SONNTAG“.
Auf die Frage, ob er dabei auch an Bulgarien und Rumänien denke, antwortete er: „Pflegepersonal aus EU-Staaten ist bei entsprechender Qualifikation kein Problem. Unter bestimmten Voraussetzungen kommen auch Nicht-EU-Staaten in Betracht.“
SPIEGEL Online 11. September 2013, 08:08 Uhr
Fachkräftemangel
Bundesregierung wirbt im Ausland um Pflegekräfte
In Deutschland fehlen Schätzungen zufolge Zehntausende Pflegekräfte. Die Bundesregierung versucht, vor allem in Südeuropa Krankenschwestern und Altenpfleger abzuwerben. Ähnliche Projekte gibt es aber auch in Serbien, Tunesien und auf den Philippinen.
F.A.Z., Freitag, den 03.01.2014 Wirtschaft 47
Perspektive für junge Südeuropäer
Anwerbeaktion für Azubis und Pflegekräfte ein Erfolg
Wiesbaden (lhe). Das Werben der hessischen Landesregierung um Azubis und Altenpfleger in Madrid hat im vergangenen Jahr mehr als 100 junge Spanier nach Hessen gelockt. (…)
Diese “Problemlösungsstrategie” wird bekanntlich auch in anderen Wirtschaftsbereichen praktiziert (HP-PLUS) und daher auch von den Unternehmensverbänden befürwortet:
SPIEGEL Online 04. Januar 2014, 12:47 Uhr
Zuwanderungsdebatte
WIRTSCHAFT KRITISIERT ANTI-AUSLÄNDER-KURS DER CSU
“Wer betrügt, der fliegt” – mit diesem Satz macht die CSU Stimmung gegen Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien. Nun schaltet sich der Deutsche Industrie- und Handelskammertag ein: Die Bundesrepublik brauche nicht weniger, sondern mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland.
Die gesellschaftspolitisch Brisanz der Einwanderungsentwicklung und -politik steigt zudem noch dadurch, daß Politik und Wirtschaft zunehmend nach dem Motto verfahren “Einwanderung statt Nachwuchspflege”:
Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) Bonn, 12.12.2013
Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge erneut gesunken – Passungsprobleme nehmen zu
Entwicklung des Ausbildungsmarktes 2013
Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist 2013 auf einen historischen Tiefstand gefallen. Sowohl das Ausbildungsplatzangebot als auch die Ausbildungsplatznachfrage gingen im Vergleich zum Vorjahr zurück. Zugleich nahmen die Passungsprobleme zu: ein höherer Anteil des betrieblichen Ausbildungsangebots blieb unbesetzt, und mehr Ausbildungsplatznachfrager blieben bei ihrer Ausbildungsplatzsuche erfolglos. Insgesamt verschlechterte sich die Situation auf dem Ausbildungsmarkt zu Lasten der Jugendlichen,und es gelang nicht mehr im selben Ausmaß wie in den drei Jahren zuvor, ausbildungsinteressierte Jugendliche an dualer Berufsausbildung zu beteiligen. Auf Seiten der Betriebe zeichnen sich zunehmende Stellenbesetzungsprobleme vor allem im Handwerk und in der Landwirtschaft ab.
DeutschlandRadio Kultur, Interview / Beitrag vom 07.01.2014
Ausbildung
Bundesregierung tut zu wenig für “abgehängte” Jugendliche
Soziologin hält den Koalitionsvertrag für zu stark auf den oberen Bildungsbereich ausgerichtet
HEIKE SOLGA im Gespräch mit André Hatting
Der Bundesregierung fehlt ein Konzept, um die Chancen gering qualifizierter Jugendlicher zu verbessern. (picture alliance / dpa / Armin Weigel)
Die Bundesregierung kümmert sich aus Sicht der Bildungssoziologin Heike Solga zuwenig um die Chancen gering qualifizierter Jugendlicher auf dem Arbeitsmarkt. Es müsse mehr getan werden, um “diese Abgehängten nicht so frühzeitig im Leben abzuhängen”.
André Hatting: Deutschlands Wirtschaft wächst und wächst, immer mehr Menschen haben Arbeit. Mit 41,8 Millionen war 2013 wieder ein Rekordjahr, das siebte in Folge. Für dieses Jahr sind die Prognosen erneut gut, im europäischen Vergleich sogar Spitze. Das ist aber nur die eine Seite, denn gleichzeitig wächst die Zahl der Abgehängten in Deutschland. Das werden die aktuellen Arbeitsmarktzahlen heute wieder belegen, mehr Stellen bedeuten nicht automatisch weniger Arbeitslose. Abgehängte, das sind Menschen, die selbst bei boomender Konjunktur keinen Job bekommen.
Über genau dieses Problem möchte ich jetzt mit Heike Solga sprechen. Sie ist Direktorin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, ihr Schwerpunkt: soziale Ungleichheit und ihre Verfestigung. Für diese Forschung bekommt sie Ende Januar den Wissenschaftspreis des Landes Berlin verliehen
Geradezu fatal ist das parteiübergreifende Schweigen zum Kern der bundesdeutschen Schrumpf-Alterung – nämlich den Ursachen des anhaltenden Kinderschwunds und den möglichen Antworten darauf. So häufen sich in letzter Zeit journalistische Beiträge, z.T. von jungen Autorinnen verfaßt, die sich ganz persönlich mit der Kinderfrage beschäftigen. Diese Debatte findet jedoch regelmäßig keine politische Fortsetzung:
DER SPIEGEL 27.11.13, Nr. 48/2013, S. 156-157
ESSAY
Die große Erschöpfung
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in diesem Land immer noch ein Traum.
Von Claudia Voigt
F.A.S., Sonntag, den 05.01.2014 Feuilleton 37
MAN MUSS WAHNSINNIG SEIN, HEUTE EIN KIND ZU KRIEGEN
Wie die tollste Sache der Welt in unserer Gesellschaft für viele zu einem Albtraum geworden ist und wie man das wieder ändern könnte
Kinder sind so etwa das Tollste, was es gibt, aber ich habe wahnsinnige Angst davor, welche zu haben, und habe bislang also keine, obwohl ich wirklich will, habe ich keine, denn alles, was ich über das Kinderhaben höre und lese, ist so furchteinflößend, dass ich manchmal denke: Man muss ja total wahnsinnig sein, auf die Idee zu kommen, wirklich ein Kind zu kriegen. (…)
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Das entsorgte Kind
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(…) Bei all diesem Durcheinander frage ich mich vor allem: Warum soll ich ein Kind bekommen, wenn ich gar keine Zeit dafür haben und es pausenlos wegorganisieren werde? Wann soll denn da eine Beziehung zu dem Kind entstehen? Mit einem Jahr in die Kita, zack, Schule, Ganztagsschule. Auf dem Weg zur Kita rennen, damit ich nicht zu spät komme, aber mein Kind will sich vielleicht irgendeine Blume ansehen oder findet einen Lastwagen toll, und dann muss ich es da wegziehen, weil ich, im Dienst der Arbeit, keine Zeit habe. Ich verstehe dieses Selbstausbeutungskonzept nicht, welches natürlich schon vor den Kindern anfängt – perfekte Arbeit, perfekte Beziehung, perfekter Körper, perfekte Bildung und perfekte Einrichtung – und sich nach den Kindern, nur unter verschärften Bedingungen, fortsetzt, denn da möchte man natürlich weiterhin alles haben und perfekte Kinder obendrauf, wobei es eben die Kinder sind, die sich dem Perfektions- und Timing-Wahn nicht unterwerfen lassen, aber ich lebe inzwischen dermaßen effizient, dass mir bestimmt alle naselang der Geduldsfaden reißen würde. So: Es ist jetzt aber total unpassend, dass du schlecht träumst, muss das sein? Ich habe zu tun! (…)
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Die Kapitalismus-Frage
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Die Frau muss auch arbeiten, aufsteigen und funktionieren, ein bisschen weniger als der Mann vielleicht, aber dafür ist sie auch mehr für den Haushalt und die Kinder zuständig. Männer wie Frauen sind mit ihren Aufgaben überfordert und unzufrieden. Insofern haben beide ein Geschlechteranliegen, welches aber am Ende auf die Verfasstheit unserer Ordnung weist. Natürlich, Frauen müssen die feministische Arbeit auf sich nehmen, dafür zu kämpfen, dass es Männer genauso stört, wenn es dreckig ist, und sie etwas dagegen tun. Dagegen würde es Männern wahrscheinlich besser gehen, wenn sie sich weigerten, potente Funktionsmaschinen zu sein, die niemals scheitern, was ein Gedanke ist, von dem man glücklicherweise immer häufiger lesen kann. Aber lange nicht so oft wie über den Wirtschaftsfeminismus, der, in der Regel von Frauen aufgeschrieben, dafür eintritt, dass Frauen dringend kapitalistisch verwertet werden müssen. Die Folge davon ist der Imperativ der berufstätigen Mutter. Es ist aber sehr dumm, den Feminismus in den Dienst des Kapitalismus (tut mir jetzt leid, dieses große, schwer fassbare Wort) zu stellen, in welchem die Männer, seit es ihn gibt, stehen und davon Herzinfarkte bekommen.
Und deswegen muss es die Möglichkeit geben, weniger zu arbeiten. Für Männer und Frauen. Nicht achtzig, besser sechzig Prozent und ohne, dass man weniger Geld bekommt. Natürlich nur für die, die es wollen. Für vier Jahre müsste das doch machbar sein. (….)
ANTONIA BAUM, Jahrgang 1985. Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.
Lesermeinungen (303 – Stand 08.01.14 – 15:50 Uhr)
und HP-PLUS
siehe dazu:
Zum Thema siehe auch:
- HBF-Themen-Archiv “Bevölkerungsentwicklung”
- HBF-Themen-Archiv “Einwanderung”
- HBF-Themen-Archiv “Alterung/ Reaktionen und Konzepte”
- HBF-Themen-Archiv “Kinderwunsch/losigkeit”
- Populäre Irrtümer zur Demographie: Warum Deutschland seinen Kinderschwund nicht stoppt – Stichwort “Einwanderung”, SWR2-Vortrag von K. Petropulos, 03. Oktober 2013
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1) z.B.
SPIEGEL Online 02. Januar 2014, 07:22 Uhr
SPD-Außenminister
Steinmeier kritisiert CSU-Kampagne gegen Zuwanderer
Der Außenminister schaltet sich in die Zuwanderungsdebatte ein: Mit ihrer Kampagne gegen die sogenannte Armutsmigration schade die CSU Deutschland und Europa, sagte der SPD-Politiker Frank-Walter Steinmeier der “Süddeutschen Zeitung”. Ein Parteifreund wird noch deutlicher.