Schweizer Einwanderungs-Abstimmung:

Angst ist (k)ein schlechter Ratgeber.

– Eine Nachbetrachtung

 

HBF-AKTUELL, Tübingen, 12. Februar 2014, erstellt 18:29 Uhr, Stand 19:45 Uhr

 

Das Schweizer Votum für eine Einwanderungsbremse (vgl. HBF 10.02.14) ist in der polit-medialen Öffentlichkeit weitgehend auf scharfe Ablehnung gestoßen. Leider, so der Tenor, sei es den Populisten gelungen, die Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Nur wenige Beobachter sehen darin allerdings die Chance, daraus für die Weiterentwicklung der „europäischen Idee“ zu lernen (HPL). Wie notwendig das ist, bestätigt heute auch eine aktuelle Studie aus völlig unverdächtiger Quelle (HPL).

 

HBF-Volltext-Version

 

Das Schweizer Votum für eine Einwanderungsbremse (vgl. HBF 10.02.14) ist in der polit-medialen Öffentlichkeit weitgehend auf scharfe Ablehnung gestoßen. Leider, so der Tenor, sei es den Populisten gelungen, die Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Nur wenige Beobachter sehen darin allerdings die Chance, daraus für die Weiterentwicklung der „europäischen Idee“ zu lernen (HPL).

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 11.02.2014

SCHWEIZ

EUROPAS SPIEGEL

Einwanderungs-Ressentiments gibt es überall – massiv sogar

Von Thomas Kirchner

 

(…) Was nicht hilft: die Schweizer auszuschimpfen, anzufeinden, sie gar aus dem Club der respektablen Länder zu werfen. Mit Blick auf die bevorstehende Europawahl würde der erhobene Zeigefinger auch von den eigenen Bürgern als absolut falsches Signal verstanden. Denn die Schweizer sind in der Summe nicht fremdenfeindlicher als ihre Nachbarn, sie tragen kein xenophobes Gen im Körper.

Sie dürfen nur abstimmen darüber und drücken ein verbreitetes Unbehagen aus: das Gefühl der Verlorenheit angesichts der raschen Veränderung ihrer Lebenswelt, die Angst vor Status- und Identitätsverlust, die Furcht, im Sturm der Globalisierung und Digitalisierung die Heimat und sich selbst zu verlieren, die Ohnmacht gegenüber international agierenden Banken und Konzernen, die anscheinend durch nichts zu bändigen sind.

Die cleveren Populisten der Schweizerischen Volkspartei wissen diese Ängste auf einen Begriff zu bringen: ÜBERFREMDUNG. (…)

Diese Angst existiert überall in Europa. Nicht so sehr in Deutschland, dem es noch gut geht, aber in Italien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien. Allerorten gibt es Bestrebungen, die Freizügigkeit zu beschränken.

Viele Menschen sehen in Europa keine Hilfe, sondern einen Teil des Problems.Sie empfinden „Brüssel“ als Projekt einer liberalen Elite, die sie zunehmend verachten.Diese Gefühle werden durch die Wirtschaftskrise verstärkt. Sie muss man mit Argumenten widerlegen – am besten mit einer ehrlichen Debatte darüber, welche Vor- und Nachteile eine Europäische Union in Zeiten einer beschleunigten und globalisierten Welt bietet.

Viele der Reaktionen auf das Schweizer Final zielen in die andere Richtung. Die Schweizer seien ja in einer „Sondersituation“, bemerkte Bundesinnenminister Thomas de Maizière, die meisten Deutschen hätten mit der Zuwanderung „überhaupt kein Problem“. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz wies seelenruhig darauf hin, dass die Regierung in Bern die Initiative klar abgelehnt habe. „Sie ist in dieser Frage unser Partner“ – völlig wurscht, was die Leute abstimmen, möchte man ergänzen. Am schlimmsten aber ist jene Art von Arroganz, wie sie SPD-Vize Ralf Stegner an den Tag legt. „Die spinnen, die Schweizer“, twitterte er. „Geistige Abschottung kann leicht zur Verblödung führen.“ Wer so redet, hat nichts verstanden.

 

siehe dazu auch:

SPIEGEL Online 11. Februar 2014, 11:10 Uhr

Schweizer gegen Zuwanderung

EUROPAS MUTIGSTE DEMOKRATEN

Die Schweiz, ein Rassisten-Nest? Von wegen: Nicht aus Angst, sondern aus Kühnheit ziehen die Eidgenossen die Zuwanderungsbremse – gegen alle Widerstände aus Europa. Und aus gutem Grund.

Ein Debattenbeitrag von Patrik Müller

 

(….) Sie könnten, beispielsweise, in ihren liebsten Urlaubskanton fahren, in das Tessin. Dort waren es keine Rechtspopulisten, sondern die Grünen, die an vorderster Front für die Einwanderungsinitiative kämpften. Weil die Personenfreizügigkeit zu einer “sozialen Katastrophe” führe – zu Lohndumping und Ausbeutung italienischer Arbeitskräfte.

Das knappe Volks-Ja wäre allein mit den Stimmen der konservativen SVP, die die Abstimmung “gegen die Masseneinwanderung” initiiert hat, niemals möglich gewesen. Die SVP hat einen Wähleranteil von gerade einmal 25 Prozent. Für eine Mehrheit brauchte es also weitere 25 Prozent. Eben Grüne. Oder den bürgerlichen Mittelstand, der in den Boom-Regionen keine bezahlbaren Wohnungen mehr findet.

 Oder aber linke Wachstumskritiker wie den Sozialdemokraten Rudolf Strahm. Er hält diePersonenfreizügigkeit für ein “neoliberales und menschenverachtendes Konzept”, weil auf dem Binnenmarkt Europa die Arbeitnehmer wie Güterwagen hin- und hergeschoben würden. (…..)

(..) Probleme der Personenfreizügigkeit zu reden. Bevor diese im Jahr 2000 schrittweise eingeführt wurde, hatte die Regierung 10.000 Einwanderer pro Jahr prognostiziert. Effektiv kamen dann 80.000. Das entspricht einem Prozent der Gesamtbevölkerung, etwa dreimal so viel wie die Nettoeinwanderung nach Deutschland. Das ginge in keinem Industrieland der Welt lange gut.

Der Ausländeranteil steigt und steigt, er beträgt aktuell 23,4 Prozent (in Deutschland: neun Prozent). Er wäre noch viel höher, wenn die Schweiz nicht großzügig Ausländer einbürgern würde – jedes Jahr 40.000 (in Deutschland: 100.000, bei zehnmal größerer Bevölkerung). (…)

 

Zum Autor

Patrik Müller, 38, ist seit 2007 Chefredakteur der “Schweiz am Sonntag”, mit 203.000 Exemplaren die größte abonnierte Sonntagszeitung der Schweiz. Der Ökonom war davor für die “SonntagsZeitung” und den “SonntagsBlick” tätig.

Wie berechtigt die Sorgen der Bevölkerung inner- und außerhalb der Schweiz vor der vollständigen „Arbeitskraftmobilität“ unter den heutigen Rahmenbedingungen ist, bestätigt sogar eine gestern veröffentlichte Studie der EU-Kommission zur Arbeitsmigration:

Tagesspiegel 11.02.2014 14:33 Uhr

Zuwanderer aus der EU

MOBIL, ÜBERQUALIFIZIERT UND GÜNSTIG

Arbeitsmigranten aus dem europäischen Ausland sind laut einer Fallstudie der EU-Kommission eher überqualifiziert als ihre einheimischen Kollegen.

Arbeitsmigranten aus der EU sind äußerst mobil, sagt die EU-Kommission. – Foto: pa/dpa

 

“Mobile EU-Bürger nehmen Beschäftigungen unterhalb ihres Qualifikationsniveaus an”, erklärte die Brüsseler Behörde in der am Dienstag vorgelegten Untersuchung. Die Kommission hatte die Situation in den Großstädten Barcelona, Dublin, Hamburg, Lille, Prag und Turin unter die Lupe genommen. Die Autoren sprechen von einer “Vergeudung von Fähigkeiten”, die die Vorteile der allgemeinen Freizügigkeit in Europa schmälere. (….)

European Commission 11/02/2014

Pressemitteilung, Brüssel, 11. Februar 2014

Freizügigkeit: Europäische Kommission veröffentlicht Studie zur Integration mobiler EU-Bürger in sechs Städten

 

siehe dazu auch:

Deutschlandfunk  Europa heute / Beitrag vom 11.02.2014

EU-Freizügigkeit

Das Tessin und der Schweizer Volksentscheid

Von Kirstin Hausen

Sommerwetter in Lugano am Luganer See im Schweizer Kanton Tessin. (picture alliance / dpa / Karl Mathis)

Mit sehr knapper Mehrheit haben die Schweizer der Begrenzung der Einwanderung zugestimmt und damit das EU-Grundprinzip der Personenfreizügigkeit infrage gestellt. Im Tessin stimmten fast 70 Prozent der Eidgenossen für die rechtskonservative Initiative. Rund 60.000 Grenzgänger kommen hierher zur Arbeit.

Angst vor der EU? Vor Druck und Repressionen wegen des Abstimmungsergebnisses, das im Ausland heftig kritisiert wird? Nein, sagt dieser Tessiner auf dem Weg zum Supermarkt. Angst habe er nicht.

“Unsere Politiker müssen jetzt eine Lösung finden mit der EU. Wir sind rational genug, um auch diese Spannungen zu beheben.”

Angst haben die Tessiner viel mehr vor der steigenden Zahl italienischer Einwanderer, mit denen sie auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren müssen. Auf 300.000 arbeitende Tessiner kommen 60.000 italienische Grenzgänger. Sie arbeiten in der Schweiz und leben in Italien. Die 22-jährige Einzelhandelskauffrau Ylenia Jaffi fühlt sich ihnen gegenüber benachteiligt.

“Es sind zu viele. Und die Arbeitgeber stellen inzwischen bevorzugt Italiener ein, weil sie mit weniger Lohn zufrieden sind.”

 

Zum Thema siehe auch:

 

 

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