Hauptsache Arbeit!
– Das Patenrezept gegen Landflucht und Kinderarmut?
/ Fakten zu einem politischen Denkfehler
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HBF-AKTUELL Tübingen 11. April 2014, erstellt 13:35 Uhr, Stand 12.04.14, 18:27 Uhr
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Die Statistischen Ämter beliefern das interessierte Publikum derzeit mit neuen, hoffnungsarmen Botschaften zur demographischen Entwicklung und Zukunft des Landes (HPL). Angesichts der damit verbundenen „Herausforderungen“ (vgl. z.B. die aktuelle Rentendebatte – HPL) hat die Bundesfamilienministerin jetzt erkunden lassen, wie es um die mentale Fitneß der Nachwuchsgeneration für ihre künftige Aufgabe bestellt ist (HPL). Wirtschaftsforscher geben derweil den Unternehmen tatkräftige Hilfe für die Auswahl zukunftsträchtiger Standorte im Land (HPL). Die voraussichtlichen Verlierer dieses demographischen „Schönheitswettbewerbs“ glauben mit einer attraktiven Ansiedlungspolitik punkten zu können, wie sich etwa gestern bei einer Diskussionsveranstaltung mit Beteiligung des HEIDELBERGER FAMILIENBÜROS bestätigte (vgl. HBF 09.04.14 und HPL).
„Hauptsache Arbeit“ ist bekanntlich auch das Rezept der schwarz-roten Bundesregierung im Kampf gegen die doppelte Kinderarmut (HPL und HBF-Themen-Archiv). Als Kollateral-Nutzen kann die Wirtschaft darauf hoffen, damit ihren sich verschärfenden Fachkräftemangel lindern zu können. Idealerweise sollte Eltern dafür die Vollzeit(nahe)-Doppelerwerbstätigkeit „nahegelegt“ werden (vgl. HBF 2014a). Eine Vorstellung, die den Beifall der Bundesfamilienministerin findet (vgl. HBF 2014b).
Bei ihrem vermeintlichen Patentrezept gegen die Landflucht, die Kinderarmut und den Fachkräftemangel übersehen die Akteure aus Politik und Wirtschaft allerdings einige wesentliche Fakten (HPL), die die Erfolgswahrscheinlichkeit deutlich beeinträchtigen (HPL).
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HBF-VOLLTEXT-Version
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Die Statistischen Ämter beliefern das interessierte Publikum derzeit mit neuen, hoffnungsarmen Botschaften zur demographischen Entwicklung und Zukunft des Landes:
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Statistisches Landesamt Baden-Württemberg 10. April 2014
Baden-Württemberg: Immer weniger Minderjährige und mehr Ältere
Ende 2012 lebten nur noch 1,83 Mill. Minderjährige, aber bereits 2,06 Mill. 65jährige und Ältere im Südwesten – Deutliche regionale Unterschiede
(….) Gegenüber 1970 hat sich die Zahl der Baden-Württemberger um immerhin 1,62 Mill. oder 18 Prozent erhöht, so das Statistische Landesamt weiter.
Derzeit (leben) nur noch 1,83 Mill. Kinder und Jugendliche im Land – 1970 waren es noch 2,54 Mill. Damit ist (….) die Zahl der Minderjährigen seit 1970 um immerhin 28 Prozent zurückgegangen; der Anteil der unter 18jährigen an der Gesamtbevölkerung Baden-Württembergs hat sich in den letzten vier Jahrzehnten von immerhin 28 Prozent auf nur noch 17 Prozent verringert.
Besonders stark angestiegen ist dagegen die Zahl der Älteren: Lebten 1970 erst 1,06 Mill. 65jährige und Ältere in Baden-Württemberg, waren es Ende 2012 bereits 2,06 Mill (+95 Prozent). Der Anteil der Älteren an der Gesamtbevölkerung Baden-Württembergs hat sich damit seit 1970 von knapp 12 Prozent auf annähend 20 Prozent erhöht. (…)
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F.A.Z. 11.04.14
Zensus-Ergebnisse
BIS 2060 VERLIERT HESSEN MEHR ALS EINE MILLION EINWOHNER
Die Bevölkerung in Hessen wird immer weniger. Auch die Zahl der unverheirateten Menschen hat zugenommen. Das sind Ergebnisse des Zensus 2011, die nun das Statistische Landesamt vorgestellt hat.
Von Lisa Bergmann
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Angesichts der damit verbundenen „Herausforderungen“ (vgl. z.B. die aktuelle Rentendebatte zuletzt in: HBF 07.04.14 und HP-PLUS) hat die Bundesfamilienministerin jetzt erkunden lassen, wie es um die mentale Fitneß der Nachwuchsgeneration für ihre künftige Aufgabe bestellt ist:
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Bundesfamilienministerium Do 10.04.2014
Manuela stellt Erhebung über
Zukunftserwartungen junger Menschen auf dem Berliner Demografie Forum 2014 vor
Vor den mehr als 300 Teilnehmenden am Berliner Demografie Forum 2014 hat Bundesfamilienministerin Manuela am 10. April eine neue Erhebung über die Zukunftserwartungen der 20 bis 34-Jährigen vorgestellt. Bisher gab es nur wenige repräsentative Erkenntnisse über die Vorstellungen junger Menschen vom Demografischen Wandel und seinen Auswirkungen auf ihr Leben. “Die demografiepolitischen Diskussionen richten den Fokus bisher überwiegend auf die Alterung der Gesellschaft. Wir müssen jetzt auch die junge Generation verstärkt in den Blick nehmen, denn es geht besonders um ihre Zukunft”, betonte Bundesfamilienministerin Manuela in ihrer Rede. (…)
Junge Menschen sehen steigende Belastungen auf sich zukommen: 88 Prozent erwarten eine längere Lebensarbeitszeit, 83 Prozent gehen davon aus, dass sie privat mehr für das Alter vorsorgen müssen. Hingegen erwarten nur 23 Prozent bessere Berufsaussichten für junge Leute und 19 Prozent einen Rückgang der Arbeitslosigkeit.
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Partnerschaftliche Aufgabenteilung hilft, den demografischen Wandel zu bewältigen
(…)
Das Institut für Demoskopie Allensbach hat im Herbst 2013 im Auftrag des Bundesfamilienministeriums 1.097 Männer und Frauen zwischen 20 und 34 Jahren zu ihrem Wissen, ihren Vorstellungen, Befürchtungen und Erwartungen befragt.
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und HP-PLUS
Wirtschaftsforscher geben derweil den Unternehmen tatkräftige Hilfe für die Auswahl zukunftsträchtiger Standorte im Land. Seit Ende März bietet das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW Köln) allen Interessierten die Möglichkeit, sich auf einer interaktiven Karte anzeigen zu lassen, welche Kreise im Bundesgebiet bis 2030 an Bevölkerung gewinnen und welche voraussichtlich verlieren werden:
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Institut der Deutschen Wirtschaft, IW-Köln 28.03.14
Bevölkerungsentwicklung
WO DEUTSCHLAND WÄCHST, WO ES SCHRUMPFT
Von 2000 bis 2011 hat sich der Bevölkerungsanteil in den 14 größten deutschen Städten von 15,5 auf 16,4 Prozent erhöht. Für 2030 prognostiziert das IW Köln, dass sogar bis zu 18,8 Prozent der Bevölkerung in den 14 größten Städten leben werden. Wie genau sich die Bevölkerung bis dahin in allen 402 Landkreisen und kreisfreien Städten entwickeln wird, hat das IW Köln in einer interaktiven Karte zusammengestellt. (….)
Für einige Regionen bedeutet das im Umkehrschluss, dass sie sich auf deutlich sinkende Einwohnerzahlen einstellen müssen. Die peripheren ostdeutschen Regionen schrumpfen dabei laut IW-Studie am stärksten. Allen voran der sachsen-anhaltinische Kreis Mansfeld/Südharz und der Elbe-Elster-Kreis in Brandenburg, die jeweils 28 Prozent an Bevölkerung einbüßen, im thüringischen Greiz sind es voraussichtlich 26 Prozent.
Doch auch in Süddeutschland gibt es Bevölkerungs-Verlierer (…)
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Die voraussichtlichen Verlierer dieses demographischen „Schönheitswettbewerbs“ glauben mit einer attraktiven Ansiedlungspolitik punkten zu können, wie sich etwa gestern bei einer Diskussionsveranstaltung mit Beteiligung des HEIDELBERGER FAMILIENBÜROS bestätigte (vgl. HBF 09.04.14 und Pressebericht Schwarzwälder Bote 12.04.14). Wie am 9. April berichtet, ist der Landkreis Freudenstadt mit einem voraussichtlichen Bevölkerungsminus bis 2030 um 11% das demographische Schlußlicht in Baden-Württemberg. Mit dieser Zahl konfrontiert, setzten sowohl der Landrat des Kreises, Landrat Klaus Michael Rückert, und der Bürgermeister der Stadt, Gerhard Link, ihre ganze Hoffnung darauf, durch gute Rahmenbedingungen für die Wirtschaft neue Unternehmen anlocken und damit automatisch auch junge Menschen und Familien anziehen zu können – eine Hoffnung, die sie auch mit der Bundesregierung teilt (HP-PLUS).
„Hauptsache Arbeit“ ist bekanntlich auch das Rezept der schwarz-roten Bundesregierung im Kampf gegen die doppelte Kinderarmut (HBF-Themen-Archiv “Arbeitsmarkt- statt Familienpolitik”). Als Kollateral-Nutzen kann die Wirtschaft darauf hoffen, damit ihren sich verschärfenden Fachkräftemangel lindern zu können. Idealerweise sollte Eltern dafür die Vollzeit(nahe)-Doppelerwerbstätigkeit „nahegelegt“ werden (vgl. dazu zuletzt HBF 28.03.14). Eine Vorstellung, die den Beifall der Bundesfamilienministerin findet (vgl. HBF 07.04.14 und Wirtschaftswoche 07.04.14).
Bei ihrem vermeintlichen Patentrezept gegen die Landflucht, die Kinderarmut und den Fachkräftemangel übersehen die Akteure aus Politik und Wirtschaft allerdings einige wesentliche Fakten, die die Erfolgswahrscheinlichkeit deutlich beeinträchtigen. Beispielsweise die Hoffnung der Kommunen, beim Kampf der Regionen um die knapper werdende “Ressource Jugend” vor allen auf die Wirtschaftsförderung zu setzen, um dann im zweiten Schritt automatisch junge Menschen anziehen zu können. Mittlerweile denkt selbst die Wirtschaft nicht mehr so eindimensional. Das beweist nicht nur das neue Demographie-Angebot des IW-Köln, sondern ist auch bei der Investitionsberatung der Banken für die Unternehmen schon länger selbstverständlich:
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Hamburgisches Weltwirtschafts Institut/ BERENBERG BANK
HWWI/Berenberg-Städteranking 2010.
Die 30 größten Städte Deutschlands im Vergleich: Frankfurt am Main
Zusammenfassung 4
1 Herausforderungen für die zukünftige Stadtentwicklung 6
2 Demografie und Ökonomie 7
(….)
Aufgrund ihrer Bedeutung als Motoren des regionalen Wachstums ist die Zukunftsfähigkeit der deutschen Städte wichtig für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands insgesamt. Dabei haben die deutschen Städte in den nächsten Jahrzehnten strukturelle Veränderungen zu bewältigen. Ihre ökonomischen Entwicklungsperspektiven hängen entscheidend davon ab, welche Auswirkungen der demografische Wandel auf sie hat und wie sie den fortschreitenden Wandel zu wissens- und forschungsintensiven Produktionsweisen bewältigen werden. Im vorliegenden HWWI/Berenberg-Städteranking werden die Standortbedingungen der 30 größten deutschen Städte im Hinblick auf wirtschaftliche und demografische Dynamik, Bildung und Innovationsfähigkeit, Internationalität und die Erreichbarkeit europäischer Agglomerationen analysiert. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass es zwischen den deutschen Städten gegenwärtig stark ausgeprägte Unterschiede der Standortbedingungen sowie der ökonomischen und demografischen Dynamik gibt. (….)
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Selbst wenn “Familienfreundlichkeit” als Wettbewerbsfaktor beim Kampf um den jungen Nachwuchs in den Focus der Kommunen gerät, ist die Ausrichtung rein arbeitsmarktzentriert. Das bestätigt sich beim Blick auf die von der Bundesregierung seit 2004 ins Leben gerufenen “lokalen Bündnisse für Familien”:
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Bündnis des Monats | Breisgau-Hochschwarzwald (LK), 01.03.2014
In partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit Unternehmen entwickelt das Lokale Bündnis Angebote für Familien
Das Lokale Bündnis für Familie „Familienfreundlich im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald“ als „Bündnis des Monats März 2014“ ausgezeichnet
Im Lokalen Bündnis „Familienfreundlich im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald“ setzen sich rund 80 Bündnispartner gemeinsam dafür ein, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Region zu verbessern. Zum Beispiel bieten einige Bündnispartner in den Sommerferien eine Ferienbetreuung für die Kinder ihrer Beschäftigten an. Im März lädt das Lokale Bündnis unter anderem Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zur Regionalen Strategiekonferenz ein. Bei dem Treffen geht es um die Frage, wie sich Fachkräfte mit Familienfreundlichkeit in der Region halten lassen. Die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) eingerichtete Servicestelle Lokale Bündnisse für Familie in Berlin hat das Lokale Bündnis „Familienfreundlich im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald“ für sein Engagement bundesweit als „Bündnis des Monats März 2014“ ausgezeichnet. (….)
Auf der Strategiekonferenz im Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald am 12. März diskutieren unter anderem Bündnisakteurinnen und -akteure mit Personalverantwortlichen, wie der Landkreis für Fachkräfte noch attraktiver gestaltet werden kann. Gute Beispiele aus ihren Unternehmen, Verbänden und Institutionen liefern Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber aus der Region – darunter der Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Freiburg, der Präsident des SC Freiburg und der Kreishandwerksmeister, der selbst Inhaber eines Malerfachbetriebs ist. In themenspezifischen Foren haben die Teilnehmenden Gelegenheit, sich mit anderen auszutauschen. Für die Kinder der Teilnehmenden gibt es während der Konferenz eine Kinderbetreuung.
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Wie realistisch die Hoffnungen von Politik und Wirtschaft auf eine deutliche Ausweitung der Erwerbstätigkeit von Müttern ist – bei ähnlich bleibender Arbeitsleistung der Väter – zeigt der Blick in die Statistiken des Müttergenesungswerkes (Datenreport 2013). Mütter, die mit täglichen Spagat zwischen Haushalt, Familie und/oder Arbeitswelt überfordert sind und deshalb krank werden, haben einen gesetzlichen Anspruch auf eine “Mütter/Mutter-Kind-Kur”. Schon bei der heutigen – aus politischer Sicht – “unbefriedigenden” Arbeitsleistung der Mütter sind psychosoziale Erkrankungen, die dominierende Ursache für die Gewährung dieser Rehabilitationsmaßnahme:
Ständiger Zeitdruck und Berufliche Belastungen sind dabei die Hauptgründe für die festgestellten psychischen Störungen und Verhaltensstörungen der Mütter:
3/4 der kurbedürftigen Müttter sind erwerbstätig. Die Verteilung ihrer wöchentlichen Arbeitszeit erscheint zunächst verblüffend:
Teilzeit-Erwerbsmütter sind deutlich häufiger kurbedürftig als Voll-Erwerbsmütter. Auf den ersten Blick eine volle Bestätigung für das politische Konzept, Mütter durch mehr Ganztagsangebote in Kitas und Schulen zu entlasten.
Erst eine genaue Analyse dieser Zahlen offenbart, die Tücken dieser Statistik. Aussagekräftig ist allein der Vergleich behandlungsbedürftiger Mütter gemessen an der Zahl der Mütter mit dem gleichen Erwerbsumfang. Und da sehen die Zahlen ganz anders aus:
Kein Wunder, wenn gerade bei Voll-Erwerbsmüttern der Wunsch nach einer deutlichen Verringerung ihrer wöchentlichen Arbeitszeit besonders ausgesprägt ist und nur vergleichsweise wenige Teil-Erwerbsmütter mehr Arbeiten wollen (vgl. dazu HBF 09.01.12). Genauso erstaunt deshalb, wie die Politik aus Elternsicht am besten zu einer besseren Vereinbarkeit von Famlie und Beruf beitragen könnte: Mit mehr direkten Finanzhilfen für die Familien!
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53 Prozent der betroffenen Eltern denken, eine stärkere finanzielle Förderung der Familien würde gegen ihre Probleme mit der Vereinbarkeit helfen. In Intensivinterviews begründen die Befragten diese auf den ersten Blick sonderbar anmutende Erwartung häufig damit, dass mehr finanzielle Förderung den empfundenen Erwerbsdruck verringern und ihnen erlauben würde, weniger Stunden zu arbeiten und mehr Zeit zusammen mit ihren Kindern zu verbringen. Insbesondere Alleinerziehende denken so.
(aus: Monitor Familienleben 2010, S. 35)
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siehe dazu:
Zum Thema siehe auch:
- Kommunen im demographischen Abstiegskampf: Familienpolitik von unten als Rettung? – Impulsreferat von Kostas Petropulos in Freudenstadt (Ba-Wü) 10.04.14
- HBF-Themen-Archiv “Alterung / Folgen / Reaktionen”
- HBF-Themen-Archiv “Arbeitsmarkt- statt Familienpolitik”
- HBF-Themen-Archiv “Keine Zeit für ..Kinder…..”
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