GRAUE REPUBLIK DEUTSCHLAND – Beim kollektiven Altern ist Optimismus Pflicht (III):
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ALTERSKOSTEN im Gesundheitswesen BEZAHLBAR HALTEN
– (weg)rationalisierte Zuwendung ist der Preis
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Angesichts der steigenden Lebenserwartung der Menschen – bei gleichzeitig schrumpfender Nachwuchsgeneration – arbeiten die Regierungen konsequent daran, die Folgelasten dieser Entwicklung einzudämmen. Im Gesundheitsbereich sind sie dabei – trotz einzelner Rückschläge (HPL) – besonders weit gekommen. Ein aktueller Strafprozeß macht allerdings schlaglichtartig die möglichen Folgekosten dieser Politik erkennbar (HPL), wie Experten bestätigen (HPL).
Selbst bei den (derzeit) positiv besetzten technikorientierten Kostensenkungskonzepten ist mit Schattenseiten zu rechnen, wie Experten/innen letzte Woche auf einer einschlägigen Fachtagung erläuterten (HPL)

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HBF-VOLLTEXT
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Angesichts der steigenden Lebenserwartung der Menschen – bei gleichzeitig schrumpfender Nachwuchsgeneration – arbeiten die Regierungen konsequent daran, die Folgelasten dieser Entwicklung einzudämmen. Im Gesundheitsbereich sind sie dabei – trotz einzelner Rückschläge – besonders weit gekommen:
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Vor dem Kollaps
Viele Notaufnahmen sind überlastet, Kranke müssen kilometerweit gefahren werden, bis ein Arzt sie behandeln kann. Ursachen für den Engpass sind der Sparkurs im Gesundheitswesen, die Grippewelle – und dass manche Leute schon wegen eines Schnupfens in die Klinik gehen
Von Dietrich Mittler
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Kliniken senden Notruf
Universitätsklinikum fehlt Geld / Bundesweite Aktionswoche
Von Friederike Tinnappel
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KRANKENKASSEN GEBEN ZU VIEL AUS
Erstmals seit 2008 gibt es wieder ein Defizit

 

Ein aktueller Strafprozeß macht allerdings schlaglichtartig die möglichen Folgekosten dieser Politik erkennbar:
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Lebenslang für Ex-Krankenpfleger
Das Spiel mit dem Tod
Der Krankenpfleger Niels H. spielte mit dem Leben von Patienten, Menschen starben, weil er den Kick suchte. Dafür hat ihn das Landgericht Oldenburg zu lebenslanger Haft verurteilt. Abgeschlossen ist der Fall damit noch lange nicht.
Von Benjamin Schulz, Oldenburg
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Was lässt sich einem Menschen sagen, der als einer der größten Serienmörder in der deutschen Nachkriegsgeschichte gilt? Der wegen Mordes an zwei Menschen verurteilt wird und zugegeben hat, Dutzende weitere umgebracht zu haben? Der womöglich noch deutlich mehr Leben beendet hat? (..)
Dass H. so lange unbehelligt blieb und arbeiten konnte, bringt die beteiligten Kliniken und vor allem die Staatsanwaltschaft in Erklärungsnot. "Wie viele Jahre hatten Leute Ihnen gegenüber ein schlechtes Gefühl, und wie viele Jahre ist nichts passiert?", fragte Richter Bührmann. In Oldenburg lobte man H. einfach weg, obwohl man äußerst misstrauisch geworden war. In Delmenhorst fiel niemandem der um ein Vielfaches gestiegene Gilurytmal-Verbrauch und die drastisch erhöhten Todeszahlen auf, H. konnte das Medikament ohne ärztliche Kontrolle bestellen. (…)
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 "Schlechte Organisation, Schlamperei, Desinteresse"
von Holger Ahäuser, Studioleiter NDR Oldenburg
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"Ein Mörder hat es nirgendwo so leicht wie im Krankenhaus." Das sagt Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz, und er hat Recht. Es gibt Schwerkranke und Sterbende. Es gibt komplizierte Behandlungen mit hochentwickelten Apparaten und Medikamenten. Es gibt eine enorme Belastung für Ärzte und Pflegekräfte, die hilflosen Patienten nahekommen und oft mit ihnen allein sind. Ohnehin schon ein guter Rahmen für jemanden, der Kranke töten will. (…)

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Schlechte Organisation und Desinteresse

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Wenn zum Klinikalltag aber noch schlechte Organisation, Schlamperei und Desinteresse hinzukommen, kann es richtig gefährlich werden. Genau dieses Problem hat der Prozess gegen den Delmenhorster Krankenpfleger Niels H. zu Tage gefördert. Und genau dieses Problem ist – über den schrecklichen Einzelfall hinaus – das grundsätzlich Bedrückende, auch noch nach dem Urteil.
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Niemandem soll etwas aufgefallen sein
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Da steigt die Zahl der Toten auf einer Intensivstation dramatisch an, über zwei Jahre gibt es doppelt so viele wie sonst. Niemandem fällt etwas auf. Da steigt im gleichen Zeitraum der Verbrauch eines Herzmedikaments um das Sechs- bis Siebenfache. Niemand bemerkt etwas. Da wird über einen Pfleger im Kollegenkreis getuschelt, weil er bei plötzlich notwendigen Reanimationen auffällig oft ganz vorn dabei ist. "Rettungs-Rambo" ist sein Spitzname, viele arbeiten nicht gern mit ihm. Niemand spricht Klartext, niemand geht Verdachtsmomenten energisch nach. Der Pfleger wird bei vollen Bezügen freigestellt, mit gutem Zeugnis elegant weggelobt.
(…) Aber ein spezieller Einzelfall, den der eine oder andere Krankenhausvertreter verkaufen möchte, ist Niels H. eben auch nicht: Patientenmorde dieser Art kommen selten vor – aber sie kommen regelmäßig vor, das zeigen diverse wissenschaftliche Untersuchungen. Und immer sind sie durch mangelnde Kontrollen und Aufmerksamkeit begünstigt.
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Daß diese Defizite in einem auf Kosteneffizienz getrimmten System ganz grundsätzlicher Natur sind, bestätigte Prof. Karl H. Beine von der Uni Witten Herdecke und Chefarzt am Marienhospital in Hamm (Westfalen) gesten abend im Deutsdchlandfunk-Interview:
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Interview mit Prof. Karl H. Beine (Hamm) zu Krankentötungen

Selbst bei den (derzeit) positiv besetzten technikorientierten Kostensenkungskonzepten ist mit Schattenseiten zu rechnen, wie Experten/innen letzte Woche auf einer einschlägigen Fachtagung erläuterten:
 
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Technologie
AUF DER SUCHE NACH ETHISCHEN ANTWORTEN
Assistive Techniken wie Serviceroboter oder sensorbasierte Überwachungssysteme sollen Hilfe- und Pflegebedürftige in ihrer häuslichen Umgebung unterstützen und das Personal in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen entlasten. Angesichts der zu erwartenden Zunahme von alten und pflegebedürftigen Menschen können solche Systeme durchaus hilfreich sein.
Von Ingeborg Breuer
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Dystopien einer Welt ohne menschliche Zuwendung
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"Es gibt den ganzen Bereich der Heimüberwachung. Der Zweck ist, einen demenzkranken Menschen zu schützen, dafür zu sorgen, dass jemand mit einer Demenz nicht wegläuft, nach einem Sturz eine Meldung erfolgt, dass dafür gesorgt wird, dass so ein Mensch genug trinkt. Wenn das Maschinen machen, 'ne Weglaufsperre, ein Armband, das die Türen steuert, eine Meldung des Teppichs, dann wird der Zweck des Schutzes optimal erfüllt. Aber den Wert einer Zuwendung erfährt dieser Mensch dadurch nicht. Es tritt eine permanente Kontrolle auf, die vielleicht einem Menschen und seinem Autonomiebedürfnis auch mit einer beginnenden Demenz zuwider läuft."
Zwar ist es vorerst noch eine Vision – doch durch die smarte Vernetzung der Wohnungen, in denen Bewegungsbilder, Ess-, Trink- und Schlafgewohnheiten und möglicherweise auch noch Blutdruck, Herzfrequenz und Gewichtschwankungen der Bewohner weitergeleitet und ausgewertet werden, verliert der Nutzer solcher Dienste zunehmend die Kontrolle über seine Daten. In einer paradoxen Weise wäre dann der Verbleib in der häuslichen Umgebung – als Erhalt der Selbstbestimmung – zugleich durch Einbußen bei der Privatheit erkauft, was aber wiederum als Einschränkung der Selbstbestimmung zu verstehen ist. (…)

Dass alte, bedürftige Menschen nicht nur Technik, sondern ebenso Zuwendung und Fürsorge bedürfen, dürfte breiter gesellschaftlicher Konsens sein. Allerdings ist Pflege teuer und Pflegepersonal erst recht. Wenn smarte Technologien die Kosten für die Versorgung älterer Menschen senken könnten, warnt Heiner Fangerau, ökonomische Interessen Vorrang vor ethischen Vorbehalten gewinnen.

"Es kann durchaus sein, dass Marktinteressen und auch politische Interessen dazu führen, dass wir einer solchen Dystopie näher kommen. Sie haben die Debatte immer, wenn irgendwo Maschinen eingeführt werden – es besteht die Sorge, das Menschen überflüssig werden. Und da muss man tatsächlich aufpassen, dass Menschen nicht zu überflüssig werden. Und das wäre etwas, da hätte ich tatsächlich in der Medizin und in der Pflege ein ganz klein bisschen Sorge." (…)
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Zum Thema siehe auch:
  • Kostensenkungspotential in deutschen Krankenhäusern überschätzt – Studie rückt internationale Vergleichsdaten zurecht (HP-PLUS)